Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Die Bedeutung der Familie bei Ellen Key im politisch/pädagogischen Kontext - unter besonderer Berücksichtigung ihres Buches "Das Jahrhundert des Kindes" Diplomarbeit

vorgelegt von Margrit Hansen
am 29.10.1996
Bildungswissenschaftliche Hochschule Flensburg/Universität

1 Einleitung

Im Jahre 1902 erschien das Buch der Schwedin Ellen Key "Das Jahrhundert des Kindes" in deutscher Sprache und erreichte im Deutschen Reich eine außergewöhnliche Publizität. [1]

In diesem Buch nimmt Ellen Key Stellung zur Gleichberechtigung der Frau, zu Fragen von Ehe und Familie, sie äußert sich kritisch zur Schule als Erfahrungs- und Lernraum, zur religiösen Erziehung, zur Kinderarbeit und zum Militarismus. Sie zeigt sich als engagierte Sozialkritikerin, versierte Psychologin und Pädagogin, deckt Zusammenhänge auf zwischen Klerikalismus und Militarismus, zwischen fehlender sozialer Gesetzgebung und der Ausbeutung von Kindern und Frauen in der industriellen Produktion.

Das Buch ist in seinem Argumentationszusammenhang sorgfältig geordnet:

1.Kap.: Über das Recht des Kindes, sich seine Eltern zu wählen
2.Kap.: Das ungeborene Geschlecht und die Frauenarbeit
3.Kap.: Erziehung
4.Kap.: Heimatlosigkeit
5.Kap.: Die Seelenmorde in den Schulen
6.Kap.: Die Schule der Zukunft

7.Kap.: Der Religionsunterricht

8.Kap.: Kinderarbeit und Kinderverbrechen

Schon ein Vierteljahrhundert später aber werden Ellen Keys philosophische Thesen sowie ihre anderen realitätsbezogenen Reformvorschläge und kritischen Gesellschaftsanalysen kaum noch diskutiert.

Nur ihre Ideen zu einer "Schule der Zukunft" (Kap. 5 und 6, s.o.) leben in der pädagogischen Geschichtsschreibung weiter. Ellen Key ist hier die zum Teil gelobte, zum Teil kritisierte Reformpädagogin in der Tradition Rousseaus. Als "Schlagwort der Zeit" (Reble, 1959:270) gilt ihre Botschaft von der "Majestät" und "Heiligkeit" des Kindes.

Die Komposition des Buches zeigt jedoch deutlich, dass es ihr nicht allein um die Pädagogik im schulischen Bereich geht, sondern auch um die Veränderung der außerschulischen Kinderwelt; d.h. Selbstbestimmung, Mitmenschlichkeit und Frieden in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie möchte mit konkreten Vorschlägen die Vision von einem "Jahrhundert des Kindes" in die möglicherweise zukünftige Realität rücken.

Peter Härtling (1966:43f.) charakterisiert die selektive Wahrnehmung von Seiten der reformpädagogischen Literatur so:

Das Buch erregte Aufsehen, "weil es aus der Erfahrung gedacht worden war, weil eine kluge Emanzipierte, die selbst jahrelang an Schulen gearbeitet hatte, die Gesellschaft um des Kindes willen zu verändern wünschte - und die Gesellschaft, betroffen von solch unschicklicher Offenheit, setzte sich zur Wehr"... "Was sie verlangt , ist eine Demokratie von unten, bereits erfahren vom Kinde in der Familie, und nicht ein Regiment von oben, gebärdete es sich auch demokratisch: Die Radikalität des Einzelwesens ist seine Stärke; davon sollte die Erziehung ausgehen."

Keys Werk wird hauptsächlich aufgearbeitet im Sinne einer "Reformädagogik", "Individualpädagogik" oder auch "Revolutionspädagogik".(Dräbing, 1990:521) [2]

Zunächst stellt sich die Frage, weshalb Key in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg so populär werden konnte. Kurz sollen daher auch Ellen Keys Leben und Tätigkeit, die Situation in Schweden, d.h. geistige, politische und gesellschaftliche Zustände, die sie prägen, dargestellt werden.

Es stellt sich weiter die Frage, warum die sozialen und ökonomischen, die frauenemanzipatorischen und philosophischen Aspekte schon so bald inhaltlich vergessen sind, das Schlagwort vom "Jahrhundert des Kindes" aber bis heute lebendig geblieben ist. [3]

Weiter soll der Frage nachgegangen werden, ob E. Keys Blick für die vielschichtige Verflochtenheit gesellschaftlicher und pädagogischer Probleme nicht nach wie vor sehr aktuell ist.

Eine Beurteilung aus der heutigen Perspektive muss den wissenschaftlichen Erkenntnisstand und die Zeitbedingtheit bestimmter Aussagen berücksichtigen. Von ihr benutzte Begriffe wie "das dritte Reich" oder das "tausendjährige Reich" sowie ihre eugenischen Vorstellungen sollten nicht vorschnell dazu verleiten, aus der Kenntnis des späteren Missbrauchs E. Key als Wegbereiterin unheilvoller Entwicklungen zu diffamieren. Daher sollen auch andere wichtige Arbeiten Keys , die im gleichen Zeitraum in Deutschland erscheinen, analysiert werden. So kann vermieden werden, dass Keys Aussagen aufgrund sprachlicher Unterschiede zur heutigen Zeit fehlinterpretiert werden.

Besonders intensiv soll der Begriff der Familie, wie E. Key ihn definiert, betrachtet werden. Ihre übrigen deutschsprachigen Werke geben neben dem "Jahrhundert des Kindes" hierüber genaueren Aufschluss.

Die Zukunft des Kindes beginnt beim Einzelnen, bei dem individuellen Menschenpaar, das sich entschließt, Vater und Mutter zu werden. So konstituiert sich Familie "vom Kinde aus": Nicht die übliche, auch sprachlich gewohnte Reihenfolge - Vater/Mutter/Kind - wird gewählt, sondern die Blickrichtung ist: Kind/Mutter/Familie.

Die Entscheidung zur Mutterschaft sollte in freier Verantwortung und aus Liebe zum Vater erfolgen, nicht aus Versehen, aus Pflicht oder unter Zwang, worunter auch die Zwänge der Konventionen fallen.

Was E. Key am Anfang dieses Jahrhunderts über unmenschliche Arbeitsbedingungen und Mutterschutz, Familiensituation und Menschenrecht, Friedenserziehung, Militarismus und Ökonomie ausführt, verdient es, zur Kenntnis genommen zu werden. Besonders die Verknüpfungen, die sie zwischen diesen Problemfeldern herstellt, sind bemerkenswert. Mehr noch: Ist ihr "utopischer" Ansatz noch heute Orientierungshilfe ?

U. Herrmann: "Wenn Utopien normalerweise gekennzeichnet sind durch die fehlende Vermittlung von Orientierung und Erfahrung, Hoffnung und Erfüllbarkeit, und wenn ihre Plausibilität darauf beruht, Bedürfnisse oder Ängste innerhalb bestimmter Erwartungshorizonte zur Sprache zu bringen, dann trifft dies auch auf Ellen Keys Visionen vom "Jahrhundert des Kindes" zu. Zugleich aber erhöht sie die Plausibilität ihrer Anregungen und Impulse durch die Einfügung von Passagen, die realitätsnah sind in der Weise, dass in ihnen die noch nicht eingelösten Möglichkeiten einer besseren Wirklichkeit in den Unzulänglichkeiten der konkret vorfindlichen Wirklichkeit ausgeführt werden. So wird auf faszinierende Weise aus dem Noch-Nicht des Möglichen unversehens der Maßstab des Einzufordernden." [4]

Bemerkenswert ist für mich das ganzheitliche Wissen dieser Frau. Mit ungebrochener Ehrlichkeit präsentiert sie ein selbständiges und eigenverantwortliches Denken, die "eigene Verarbeitung und Syntheseleistung einer aufmerksamen kritischen Zeitgenossin" (Andresen, 1994:255).

Ein weiteres, schwer zu fassendes Element kommt hinzu. Man könnte es "Witz", vielleicht "Mutterwitz" nennen. Mit Humor, auch mit Ironie, versteht sie es, in klarer, verständlicher Sprache hintergründige, komplizierte Verwicklungen und Widersprüche, Schwächen und Gefahren aufzuzeigen.

Nicht allein die Quantität ihres Wissens ist beeindruckend, es ist auch die Qualität ihres Wissens; bedeutungsvoll für Mitmenschen und Mitwelt, Kultur und Natur. Es geht um Liebe, um Achtung vor dem Leben, Fürsorge für alles Anvertraute, und darum, den Menschen als Teil des Wunders der Schöpfung zu begreifen. Sie ist eine engagierte und einfühlsame Denkerin, die Ideologien jeder Art ablehnt, auch wenn ihr das nicht immer gelingt.

Die menschliche Anteilnahme zeigt sich besonders in ihren Briefen an Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig, Martin Buber und Lou Andreas-Salomé. [5]

Untersucht werden ihre in deutscher Sprache erschienenen Werke.

Übersetzerin war überwiegend Marie Franzos (Pseudonym Francis Maro). Diese Freundin Keys korrigierte auch die in deutscher Sprache gehaltene Vorträge. Ellen Key konnte, da sie Deutsch sehr gut verstand und auch gut schrieb, den Aussagecharakter der Übersetzungen prüfen.

Fußnoten:



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