2 Hauptteil

2.1 Die Bedeutung der Familie in Ellen Keys Biographie

2.1.1Kindheit

Ellen Karolina Sophie Key wird 1849 auf dem Gut Sundsholm als erstes von sechs Kindern geboren. Sie bezeichnet sich selbst als Kind "junger und glücklicher Eltern" (Nyström-Hamilton,1904:9). Dies unterstreicht auch die ihrem Buch "Über Liebe und Ehe" vorangestellte Widmung:

Auf dem ländlichen Besitz wächst sie mit ihren Geschwistern in einer harmonischen Familienatmosphäre auf. Die Lebensweise des gutsituierten und gebildeten Landadels sowie der größeren Erb- und Freibauern in Schweden, Dänemark oder Norwegen ähnelt in vielem dem Leben dieser Stände im protestantisch geprägten Norddeutschland, wie z.B. Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Vorpommern (erst 1814 von Schweden getrennt) oder Ostpreußen. Kennzeichnend ist die repräsentative Rolle des Hausherrn nach außen und die ebenfalls repräsentative Rolle der Hausherrin (nicht Hausfrau!) nach innen. Die Frau in der Landwirtschaft ist im allgemeinen die Mitarbeiterin des Mannes. [6]

Die Kinder werden einfach erzogen [7], genießen viele Freiheiten, Erziehung und Bildung erfolgen meist zu Hause, durch die Eltern und mit Hilfe von Hauslehrern.

Auch Ellen Key wird ab sechs Jahren von einer schwedischen und einer deutschen Lehrerin unterrichtet. Mit vierzehn Jahren erhält sie zusätzlich Unterricht in französischer Sprache. Lehr- und Lesestoff ist daneben die Bibliothek ihrer Eltern, die Werke der europäischen Literatur und Geschichte, Philosophie, Politik und Naturwissenschaft umfasst.

2.1.2 Häusliche Atmosphäre

Der Rhythmus der Jahreszeiten und das bäuerliche Selbstverständnis, in einer langen Abfolge von Generationen zu stehen, die jeweils den familiären Besitz treuhändlerisch zu verwalten, möglichst zu mehren und weiterzugeben haben, prägen auch Ellen Keys Familienbegriff.

Auf den versorgungswirtschaftlich autonomen Gütern und größeren Höfen im Ostseeraum haben sich diese Auffassungen lange tradiert. Zwischen den oft einengenden Erziehungsmethoden der "bürgerlichen Familien" in den Städten und der Erziehung auf dem Lande bestehen zeitgleich größere Unterschiede, als zu den ländlichen Erziehungsformen noch bis zum Beginn des 2. Weltkrieges. Marion Gräfin Döhnhoff (Kindheit in Ostpreußen 1988) vermittelt ein anschauliches Bild davon, besonders in den Kapiteln: Viele Verbote - ebenso viele Übertretungen, Die eigentlichen Lehrmeister, Im Rhythmus der Jahreszeiten.

So könnte auch Key ihre Jugendzeit beschrieben haben:

"Dann beginnt die Zeit des Buches. Mit fünfzehn Jahren habe ich alles verschlungen, was in den Bücherschränken stand.... Aber kein Autor, auch kein Lyriker, kann poetischer sein als jene herbstlichen Morgen, an denen man noch im Dunkeln zum Pirschen aufbricht. Wenn die Sonne aufgeht und in ihren ersten Strahlen der Tau auf den Wiesen wie Diamanten funkelt, wenn der ferne See durch die Bäume schimmert, dann fühlt man sich dem Wesentlichen zum Greifen nah. Nicht nur die Augen, die solch unbefleckte Herrlichkeit schauen, nicht nur das Gehör, das die lautlose Stille aufnimmt - in solchen Momenten ist es, als sei der ganze Mensch durchlässig für das Wunder der Schöpfung." (S.111)

Ehen, die auf gegenseitiger Zuneigung beruhen, und die Idee des "Wachsenlassens" in der Kindererziehung findet man jedoch auch in den weniger privilegierten Schichten der bäuerlichen Familien:

Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren beginnt ihr Buch "Das entschwundene Land" mit folgenden Worten: "Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe: Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, dass sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten."

Sie erzählt von dem Hof auf Näs in Smaland, von ihren Eltern, von Spielen mit Geschwistern und Freunden, den Mägden und Knechten. Und von dem grenzenlosesten aller Abenteuer, dem Leseabenteuer, das für sie eines Tages in einer kleinen Häuslerküche begann.

Die Beobachtung der Natur im Kreislauf des Jahres, des Wachsens und Werdens in Pflanzen- und Tierwelt, führen zu einer unverklemmten Auffassung des Natürlichen, einer "Ehrfurcht" vor dem Lebendigen, so dass Ellen Key später an der Mädchenschule ohne falsche Scham von der Fortpflanzung des Menschen spricht."... Zu uns Backfischen, in diesem unleidlichsten aller Alter, dem goldenen Alter der Süßigkeiten, der Bleichsucht und der unverdauten Kenntnisse, redete sie so, dass wir unsere Köpfe in Nachsinnen und Scham senkten. Und zugleich empfanden wir ein gewisses Gefühl des Stolzes darüber, dass jemand uns wie Menschen behandelte - oder als ob wir Menschen werden sollten."(Nyström-Hamilton,1904:42)

Weil man sich heute kaum mehr eine Vorstellung davon macht, wie rigoros alles Geschlechtliche vor Kindern und besonders vor den Mädchen (Reinheit = Unwissenheit) in der bürgerlichen Erziehung ausgeklammert werden sollte, mögen ein paar Beispiele die Gepflogenheiten erläutern:

"Fragen später die Mädchen, wie es denn eigentlich mit den kleinen Kindern zugehe? so sage man: der liebe Gott gibt der Mutter das kleine Kind, das seinen Schutzengel im Himmel hat, der gewiß unsichtbar dabei geschäftig war, als wir so große Freude erlebten."(von Raumer: 1893:399)

Jean Paul: "§ 129...woher aber das kleine Menschlein? Antwortet: ‘Vom lieben Gott, wenn die Menschen einander geheiratet haben und nebeneinander schlafen.’ - Mehr wissen auch wir erwachsenen Philosophen von der ganzen Sache nicht."(in Scheuerl: Die Pädagogik der Moderne, 1992:124).

2.1.3 Jugend- und Erwachsenenalter

Die heranwachsende Ellen Key hat in der Familie Pflichten zu übernehmen; neben der Hausarbeit, der sie nicht viel abgewinnen kann, übernimmt sie die Erziehung und den ersten Unterricht ihrer jüngeren Geschwister. Mutter und Vater fördern ihre intellektuellen Anlagen (Nyström-H.,1904:21).

Zwischen Vater und Tochter besteht ein sehr herzliches Verhältnis. Emil [9] Key ist als Abgeordneter der Bauernpartei (Lantmannapartiet) ab 1867 Mitglied des schwedischen Reichstags geworden. Die Familie verbringt aus diesem Grund den Winter in Stockholm, wo die 19jährige Ellen sich als Mitarbeiterin ihres Vaters mit politischen und gesellschaftlichen Problemen beschäftigt. Er ermuntert sie zu eigener schriftstellerischer Tätigkeit, nachdem sie zuerst als seine Sekretärin gearbeitet hat. So veröffentlicht sie Artikel in einer von der Frauenrechtlerin Sophie Adlersparre herausgegebenen Zeitschrift und im liberalen "Aftonbladet". Sie studiert und unternimmt Reisen durch Europa. 1880 kommt es in Schweden zu einer Landwirtschaftskrise und zu finanziellen Schwierigkeiten der Familie. Das Gut Sundsholm muss verkauft werden, und Ellen Key zieht nach Stockholm, um dort an einer Mädchenschule eine Tätigkeit als Lehrerin aufzunehmen. Außerdem hält sie Vorlesungen am Arbeiterinstitut, vor allem vor jungen Arbeiterinnen.

Ihr schriftstellerisches Werk, das ihren Ruf als Frauenrechtlerin, Pädagogin, Literatur- und Kulturkritikerin in Skandinavien und Deutschland begründet, entsteht. Es gibt auch den Anstoß zur Gründung der "Göteborgs Högre Samskola (1901), die auch Rilke 1904 besichtigt und über die er einen Aufsatz schreibt (Fiedler,1993:265).

Nach dem Erfolg ihres Buches "Das Jahrhundert des Kindes" gibt Key 1903 ihre Tätigkeit als Lehrerin und Dozentin auf, um sich dem Schreiben ganz zu widmen. Bis Anfang 1905 wohnt sie in einem kleinen Haus auf dem Gut ihres Bruders in Oby, Smaland. Nach wechselnden Wohnsitzen in Schweden und Europa, häufig als Gast von Freunden und mit Vortragsreisen verbunden, zieht sie 1911 in ihr eigenes Haus Strand am Vätternsee. Sie setzt ihre schriftstellerische Tätigkeit mit Büchern, Aufsätzen und Rezensionen fort und stirbt 1926 in Strand. [10]

In ihrem Testament bestimmt Ellen Key, dass Haus und Vermögen in eine Stiftung eingebracht werden, die das Haus als Sommerheim erhält für arbeitende Frauen, die keine Mittel haben, sich zu erholen und zu bilden. [11]

2.1.4 Familienbegriff

Obwohl sie selbst keine "eigene" Familie, im engeren Sinne von Heirat und Mutterschaft, gründet, ist ihr die Zugehörigkeit zu ihrem Familienverband wichtig. Das erkennt man u. a. beim Lesen des Briefwechsels zwischen E. Key und R.M. Rilke (Fiedler, 1993).

Im Herbst des Jahres 1902 richtet der 26jährige Rilke seinen ersten Brief an die damals 52jährige Ellen Key, die er nicht persönlich, sondern als Leser und Rezensent des "Jahrhunderts des Kindes" kennt und bewundert. Er erhofft von ihr einen Rat in einer schwierigen Lage: Nach Heirat und Geburt des ersten Kindes in Worpswede möchte seine Frau Clara Westhoff sich wieder ihrem Beruf als Bildhauerin "mit ungetheilter Kraft" widmen und dazu zu Rodin nach Paris gehen (1. Brief, S. 4). So bittet er um Vermittlung eines "hülfreichen Menschen", der sich im Sinne Ellen Keys um die noch nicht einjährige Tochter Ruth kümmern könnte.

Es entwickelt sich eine Korrespondenz, die bald sehr herzliche Züge annimmt. Im Februar 1903: "Liebe Leute! Ich habe mir sehr nach ein Wort von Ihnen gesehnt! Sie und Ihre Frau sind ELLEN KEY so ein bischen als Kinder geworden seit Herbst." (S.7) Im März fragt sie ihn, ob er nicht ein Kind aus altem Geschlecht sei, mit ähnlicher Vorgeschichte, weil man ähnlich denke und fühle: "Ich selbst bin von meine Mutter Seite (eine Gräfin Posse) mit das beste Blut Schwedens, mit deutsche Kaiser und nordische Könige verwandt und seit unser Gustav Adolph - meine schottische Familie ein Zweig aus der große Klan Mac Key - ist mir die meines Vaters. Aber nur Krieger, Gutsbesitzer und Rechtsanwälte, nie Priester oder Kaufmann!"(S. 19)

Sie bittet ihn, ihr von seiner Familie zu erzählen, was er auch umgehend, ausführlich und mit großem Vertrauen tut. "Ihnen aber habe ich geschrieben, wie ich so einer Mutter geschrieben haben würde, oder einer älteren Schwester, die mehr vom Leben weiß als ich."(S. 28)

Im Verlauf des Briefwechsels baut sich allmählich eine fast familiäre Beziehung auf, wobei Rilke Bedürfnisse nach mütterlicher Zuwendung, die er bei seiner eigenen Mutter entbehrte, nachzuholen scheint ( s. auch Brief vom April 1903): "Liebe gute Ellen, mit allen, allen Wünschen komme ich zu Dir; es sind gar keine Wünsche in mir welche nicht Dir gelten, so wie es ist, wenn ein Kind zu seiner Mutter Geburtstag kommt.(...)In Liebe Dein Rainer Maria." (1904) Key: "Für heute lebe wohl, mein innig liebes Kind. Kuss und Gruß für Ruth und Clara!" (1908)

Die dazugehörigen Ablösungs- und Abgrenzungsprozesse sind etwa ab Mitte 1906 zu beobachten, Vertrauen und Zuneigung aber bleiben: "Dein von Herzen ungezogenes Kind: Rainer" (1913).

2.1.5 Zusammenfassung

Ellen Keys Familienbegriff ist einerseits traditionell geprägt: Stolz auf ihre Herkunft aus altem Geschlecht, Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber, Vertrautheit und Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihren leiblichen Geschwistern, den Neffen und Nichten.

Von Freunden wird sie als eine sehr mütterliche Frau geschildert. [12]

Andererseits gibt es für sie die durch Ähnlichkeit des Fühlens und Denkens begründete tiefe Freundschaft oder Liebe zwischen Individuen, die den Charakter von Wahlverwandtschaften annehmen können.

Beides verbindet sich für sie, wenn Mann und Frau, aus verschiedenen Familienverbänden kommend, sich füreinander in Freiheit und Verantwortung entscheiden - "Die, die sich lieben, sind Mann und Frau." [13] - und schließlich durch das Kind eine neue Familie begründen.


2.1 Kritische Würdigung der von Ellen Key genannten Vorbedingungen und Forderungen, die das 20. Jahrhundert zu einem "Jahrhundert des Kindes" machen sollten

2.2.1 Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen

"Vom Rechte des Kindes handelt dieses Buch, und man sieht mit einem Male ein, dass es, nachdem die Frau der jahrhundertelangen Sklaverei entwachsen ist, das Nächste sein wird, den Kindern die Freiheit zu geben." [14]

Ellen Key beginnt ihr Buch "Das Jahrhundert des Kindes" mit der Beschreibung einer Zeichnung, die anlässlich des neuen Jahrhunderts veröffentlicht wurde: Ein nacktes Kindlein senkt sich zur Erde hinab, zieht sich aber erschrocken zurück, weil auf dem waffengespickten Erdball kein Zollbreit Boden mehr vorhanden ist, auf den es seinen kleinen Fuß setzen könnte.

Nachdem jetzt fast hundert Jahre vergangen sind, ist man erstaunt und erschrocken zugleich, dies im Hinblick auf das neue Jahrtausend zu lesen.

Das Kind steht also im Mittelpunkt der Betrachtung; und doch beginnt Ellen Key nicht so, wie Pädagogen und Erziehungswissenschaftler häufig zu tun pflegen, indem sie die Existenz von Kindern als naturgegeben fast immer schon voraussetzen und darlegen, wie man sie richtig zu erziehen habe.

Rousseau z.B., als dessen Nachfolgerin Key häufig bezeichnet wird, beginnt das 1. Buch seines "Emile" mit dem Satz: "Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen."

Er beginnt mit der Geburt des Kindes, erläutert kurz den "Gang der Natur", der die Mutter als erste Erzieherin vorsieht, weil sie ja auch die Milch hat, es zu nähren. (Rousseau: Emile, 1995:107f.) [15]

Dann jedoch nimmt ein ideeller "Erzieher" die Unterweisung Emiles in die Hand, die mit der Eheschließung des Zöglings endet. Damit verbunden ist der Ausblick auf die Geburt eines Kindes, das ganz naturwüchsig bald entstehen wird. (Mann+Frau® Kind)

Genau an dieser Stelle beginnt Ellen Key den Kreislauf der Menschwerdung zu beschreiben: Die Geschlechtlichkeit von Mann und Frau steht am Anfang ihrer Studien, "die Gesetze der physischen und psychischen Entstehung" (S. 13), weil sie meint, dass der Entwicklungsgedanke erst in ihrem Jahrhundert ein ganz neues Licht auf die Menschwerdung geworfen habe. Sie bezieht sich hier auf Darwins Werk: > Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein < , das 1859 erstmals veröffentlicht wurde.

Danach diskutiert sie Ansichten, die Wissenschaftler über die Veränderung der Arten äußern, um schließlich die literarische Darstellung Nietzsches über dieses Thema besonders hervorzuheben: "In keinem Zeitgenossen ist die Gewißheit stärker gewesen als in Nietzsche, dass der Mensch so, wie er nun ist, nur > eine Brücke < ist, nur ein Übergang zwischen dem Tier und dem Übermenschen; und im Zusammenhang damit sieht Nietzsche die Pflichten der Menschen für die Veredelung der Art ebenso ernst wie Galton, obgleich er seine Sätze mit der Stärke der Seher- und Dichterworte, nicht mit der der naturwissenschaftlichen Beweisführung ausspricht." (S.26)

Sie beleuchtet dann den individuellen Aspekt, d.h. die individuellen Beziehungen körperlicher und seelischer Art zur Nachkommenschaft. Sie diskutiert sozialpolitische Aspekte, Institutionen wie die Ehe, die menschliches Verhalten formen oder auch verformen, um schließlich wieder zu Nietzsche zurückzukehren. Mit seiner Ansicht über die Ehe schließt das Kapitel : "Nietzsche, der von der Liebe wenig weiß - weil er vom Weibe beinahe nichts weiß - und der darum nicht viel des Lauschens Wertes sagt, wenn er sich über diese Themen äußert, hat doch über die Elternschaft tiefere Worte gesprochen, als irgend ein anderer dieser Zeit." (S.46)

2.2.1.1 Liebe und Ehe

2.2.1.1.1 Zeitbezug

Das Geschlechtsverhältnis der Menschen und die Bedeutung dieses Verhältnisses für die Individuen selbst und für die Nachkommenschaft wird zunächst in den Blick gerückt.

Das Besondere eines solchen Beginns kann man heute kaum noch ermessen, weil Erkenntnisse und vor allem Diskussionen über die Sexualität des Menschen inzwischen selbstverständlich geworden sind. Während man um die Jahrhundertwende öffentlich, aber auch privat darüber "nicht sprach", erlebt man heute eher das Gegenteil.

Die rigorose Ausklammerung des Geschlechtlichen, die Scheinheiligkeit in der Beurteilung, und die daraus oft folgende Tragik des "gefallenen" Mädchens sind nicht zufällig Themen vieler literarischer Darstellungen:

...Doch - alles, was dazu mich trieb, Gott! war so gut, ach war so lieb.(Gretchen in Goethes "Faust")

Es kann ja doch nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut! ( Wendla in Wedekinds "Frühlings Erwachen")

Key kritisiert vor allem die Rolle des Christentums, das hier heuchlerisch Moral definiert: "...dass das größte Hindernis einer freien Diskussion über dieses Thema jedoch noch immer die christliche Betrachtungsweise der Entstehung und der Natur des Menschen ist, nach welcher seine einzige mögliche Erhebung aus den Folgen des Sündenfalls durch den Glauben an Christus geschieht. Denn mit dieser Betrachtungsweise kam auch die durch das Christentum in das Abendland eingeführte Anschauung, dass alles mit der Fortpflanzung Zusammenhängende das Unreine sei, das man womöglich unterdrücken, und wenn schon nicht das, so wenigstens in Schweigen und Dunkelheit hüllen müsse." (J.d.K.:15f.)

Sie dagegen meint, dass jedes Kind auf jede seiner Fragen ehrliche Antworten erhalten soll. Man müsse die Antworten natürlich dem jeweiligen Entwicklungsstand anpassen. So erwirbt das Kind allmählich ein Verständnis für seine Geschlechtlichkeit, "sowie ein tiefes Verantwortungsgefühl in Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe" als Frau oder Mann, Mutter oder Vater. (S.15)

2.2.1.1.2 Kulturveredelung

Der Arterhaltungstrieb soll nicht unterdrückt, sondern "veredelt" werden, die "kulturellen Selbstverständlichkeiten" überprüft und reformiert werden.

"Kein Verhältnis zeigt besser als die Ehe, wie Sitten und Gefühle den Gesetzen, in deren Hut sie sich ausgebildet haben, um Jahrhunderte voraneilen können. Viele Männer zeigen ihren Frauen gegenüber ein Feingefühl, sie geben ihnen eine Handlungsfreiheit, die es diesen glücklichen Gattinnen gar nicht zum Bewusstsein kommen lässt, dass sie dieselbe - rechtlich gesehen - nur von Gnaden des Mannes geniessen. Erst wenn die Verhältnisse nicht glücklich sind, empfindet die Frau, dass die ganze gesetzliche Macht in die Hand des Mannes gelegt ist, der folglich die Unterstützung des Gesetzes hat, wenn er diese Macht allein gebrauchen will, mit Ausschliessung der Frau, oder wenn er sie missbrauchen will, sogar zu ihrem und der Kinder Schaden." (Ü.L.u.E.:413)

Ihr erotischer Idealismus will weder Aufopferung noch Pflichterfüllung : "Die neue geschlechtliche Sittlichkeit - bei der das Licht wie in Correggios N a c h t vom Kinde [16]ausstrahlen wird - dürfte jedoch als Ideal des höchsten Glückes und der höchsten Entwicklung der Liebenden wie der Kinder noch immer die einheitliche Liebe aufstellen." (Ü.L.u.E.:168)

Der Veredlungsgesichtspunkt soll die ethische Auffassung des einzelnen Menschen durchdringen. Als unsittlich würde schließlich gelten:

"Jede Elternschaft ohne Liebe.

Jede unverantwortliche Elternschaft.

Jede Elternschaft unreifer oder entarteter Menschen.

Alle freiwillige Unfruchtbarkeit von Ehepaaren, welche für die geschlechtliche Aufgabe geeignet sind.

Alle Äußerungen des Geschlechtslebens, die Gewalt oder Verführung voraussetzen oder die Abneigung oder das Unvermögen, die geschlechtliche Aufgabe gut zu erfüllen, zeigen."

(Ü.L:u.E:168, dort hervorgehoben)

Die erste Forderung begründet sie so: " Dass die Entwicklung der ererbten Anlagen der Kinder, ihr Kindheitsglück, ihr zukünftiger Lebensinhalt zum großen Teile von ihrer Erziehung in einem glückstrahlenden Heime abhängt, von Eltern, die in sympathischem Verständnis zusammenwirken, das braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Jeder weiß, dass Kinder aus solchen Familien einen Lebensglauben und eine Lebenssicherheit, einen Lebensmut und Lebensjubel als Angebinde erhalten haben, den keine späteren Leiden ganz ertöten können. Die Sonnenwärme, die sie aufgespeichert haben, macht es ihnen unmöglich, selbst in der härtesten Winterzeit ganz zu erfrieren. Wer hingegen mit der Winterszeit angefangen hat, friert zuweilen noch mitten in der Sommersonne."

Objektive Beweise dafür, dass die physisch-psychische Vitalität der Kinder abnimmt, wenn sie in Abneigung oder Gleichgültigkeit gezeugt werden, hingegen aber zunimmt, wenn sie in Liebe erzeugt werden, lassen sich im wissenschaftlichen Sinne nur schwer erbringen; die Komplexität und Qualität der Materie erlaubt keine monokausalen Schlussfolgerungen. Auch wird man es erst nachweisen können, "wenn sie ihr Leben gelebt haben." (Ü.Lu.E.:180) [17]

Doch sollte das Recht des Kindes, nicht in einer disharmonischen Ehe geboren und erzogen zu werden, ohne wissenschaftlichen Beweis Beachtung finden.

Die zweite und dritte Forderung ist schon oben ausführlich erörtert worden und begründet sich ebenso aus dem Recht des Kindes.

Die vierte Forderung und der zweite Teil der fünften Forderung werden bei Key ungenauer beantwortet.

Deutlich wird: Keine abstrakten Staatsbürger - und Pflichtbegriffe, keine spartanisch evolutionistischen Züchtungsgesetze sollen die Ehepaare beim Kinderzeugen beeinflussen, sondern ethische Werte. (Ü.L.u.E.:162)

Sie kritisiert die katholische Ehelehre ebenso wie Luthers Eheauffassung, die die Frau zur Hausmutter, Kindergebärerin und Erzieherin unter der Herrschaft des Hausvaters machte. "Luthers Anschauung des durch die Ehe ‘geheiligten’ Geschlechtslebens war so grob utilitarisch, dass sie die Frauen von jener Höhe, auf die das feinste Gefühlsleben und die Kultur des Mittelalters und der Renaissance sie gestellt hatten, wieder herabzog." (D.Fr.:19)

"Nichts ist - auch aus nationalem Gesichtspunkt - berechtigter, als die Ungeneigtheit der Frau, Kinder zu Dutzenden zu produzieren. Der frühere Gattinnenverbrauch (Tod bei der Geburt, Kindbettfieber, d. Verf.) eines Mannes zwischen fünfzig und sechzig betrug selten weniger als drei Ehefrauen hintereinander; und von den Kindern einer jeden starb in der Regel die Hälfte." (Ü.L.u.E.:247)

Sie scheut sich aber, die Frauenfrage mit der Selbstbestimmung über die Schwangerschaften zu verbinden.

"Es ist noch nicht entschieden, ob auf diese Weise die Hebung des Menschengeschlechts genügend berücksichtigt wird" (S.247f) - denn die befreite Frau, so glaubt sie, will zwei Kinder haben, höchstens drei, selten vier.

Und dadurch wird die Möglichkeit des Kindes, in einem Geschwisterkreis aufzuwachsen, geschmälert. Gesunde sorgenfreie Eltern sollten drei bis vier Kinder haben. Das gesunde Wachstum des Volkes aus selbstsüchtigen Gründen zu gefährden ist "antisozial" (Ü.L.u.E.:220).

In ihren Anmerkungen zu "Über Liebe und Ehe" verweist sie auf viele ungeklärte Fragen: "Während der eine z.B. Frankreichs baldigen Untergang durch das Zweikindersystem prophezeit, weist der andere auf seinen Reichtum, seine Arbeitskraft und seine geringe Emigration als die glücklichen Folgen dieses Systems hin." (S. 485)

Sie vermag sich an dieser Stelle nicht zu einer Stellungnahme durchzuringen, die wie sonst die individuelle Entscheidung der Frau betont, ihren berechtigten Selbsterhaltungswillen hervorhebt, oder die Verantwortung der Eltern für ein neues Lebewesen, das als 10. oder 11. Kind mit 6 Jahren höchstwahrscheinlich in der Fabrik zum Lebensunterhalt wird beitragen müssen.

2.2.1.1.3 Religion

Die christliche Lebensanschauung - nachdem sie nach Keys Meinung ihre Kulturaufgabe zur Entwicklung des Altruismus erfüllt hat - stellt nun ein Hindernis auf dem Wege zur Entwicklung der Menschheit dar.

"Nichts hat wohl mehr Leiden zur mittelbaren Folge gehabt, als das Christentum, und obgleich Jesus das wußte, zögerte er doch nicht, der Menschheit diese sprengend neuschaffende Kraft zu geben. Aber es ist vor allem seine Idealität, welche seinen jetzigen Bekennern fehlt, die grosse Idealität, die es wagt, an die Macht des Inhalts vor der der Formen zu glauben." (Ess.:24)

Key spricht von den "christlichen Ehebündnissen", denen Gottes Segen und das Gebot der Fruchtbarkeit und Untertänigkeit des Weibes verkündigt wird, von (mittelbaren) Frauenmorden durch unzählige Schwangerschaften, von anderen Frauen, deren "ermatteter Schoß ein karges Erdreich für das neue Geschlecht ist, ihre unterjochten Seelen eine zerbrochene Stütze für das Wachstum neuer Willen." (S.14). Konkrete Vorschläge zur Änderung dieser für die Frau existentiell bedrohlichen Situation, wie z.B. die Möglichkeit von Empfängnisverhütung, findet man nicht.

Für Ellen Key trifft hier vielleicht auch zu, was Georg Brandes (1904: S.18ff) über Ibsen sagt: "Die Grundfrage bei ihm als Dichter-Moralisten ist die über Verantwortung. Inwiefern hat der Mensch freien Willen? (...) Es lag ihm trotz seines freien Denkens überkommenes Christentum im Blut." [18]`

Die christliche Eheauffassung wird ansonsten kritisch gesehen: "Das ist die christliche Lebensauffassung, welche die grosse, gesunde, starke Ueberzeugung der Antike von der Heiligkeit der Natur erschüttert hat. Maria war die ‘jungfräuliche Mutter’, Jesus Cölibatär, Paulus betrachtete die Ehe als das kleinere von zwei Uebeln." (Ess.:24)

Die Frau hat jetzt angefangen, die Sittlichkeitsbegriffe zu prüfen (Ü.L.u.E.:202f.) und stellt sie in Frage: Warum ist Sinnlichkeit und Liebe nicht sittlich? Warum ist eine Frau, die stolz, stark, gut, arbeitsam, mutig, ehrlich und verlässlich, aber ohne Trauschein, einem gesunden Kind das Leben schenkt, unsittlich? Warum ist eine Ehe ohne Liebe sittlich, Liebe ohne Ehe dagegen unsittlich?

Auch daran wird deutlich, dass Keys Begriff von der Freiheit der Liebe nicht dasselbe ist, wie die sogenannte "freie Liebe".

Im Buch "Über Liebe und Ehe, im Kapitel "Befreiung von der Mutterschaft", erläutert sie ihre Ansichten über Liebe, Ehe und Elternschaft:

Nicht die Form (Enthaltsamkeit in und außerhalb der Ehe), sondern die Gründe sind entscheidend bei der Einschränkung der Elternschaft: Gefahr für die Mutter oder die möglichen Kinder, ökonomische oder persönliche Unzulänglichkeit, der Wille, all seine Kräfte für eine bedeutungsvolle Lebensarbeit einzusetzen. (S.219)

2.2.1.1.4 Folgerung

Der berechtigte Egoismus des Individuums muss den verbindenden Altruismus des Solidaritätsgefühls einschließen. (J.d.K.:16) Die persönliche Liebe ist für Key einer der höchsten Lebens-werte, sowohl unmittelbar für den Einzelnen selbst, wie auch mittelbar für die neuen Leben, die seine Liebe schafft. Zwar ist das Geschlechtsleben etwas sehr persönliches, aber es darf nicht das Recht der Wesen verletzen, denen "seine Liebe das Leben schenkt." (Ü.L.u.E.:25)

"Kein Mann kann früh genug die Frage bedenken, ob und wann er das Recht (hat), Leben hervorzurufen..."(J.d.K.:37) [19]

"Die Kinder haben das Recht, nicht für die Fehler und Irrtümer ihrer Eltern leiden zu müssen." (J.d.K.:61)

Ein auf die Zukunft bezogener kategorischer Imperativ wird hier von Ellen Key formuliert, sehr verwandt mit Überlegungen, die R. Spaemann in unserer Zeit anstellt: "Ehe wir uns der Frage nach den inhaltlichen Kriterien der Zumutbarkeit für Betroffene, die selbst nicht zu Wort kommen, zuwenden, haben wir zunächst die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung zu stellen.(...) Nur wo durch kulturelle ,Selbstverständlichkeiten’ der größte Teil unseres Handelns vorgezeichnet ist, findet jene Entlastung statt, die es überhaupt möglich macht, innerhalb des gegebenen Rahmens freie Entscheidungen zu treffen..." (Spaemann in: Guggenberger/Offe, 1984:245ff.)

Die Frage nach dem Wachsen der Verantwortung durch das Wachsen des Wissens und der Handlungsmöglichkeiten - bei Key ausgelöst durch Darwins Forschungen - stellt er im Hinblick auf die Ausbeutung und irreversible Zerstörung der Natur durch den Menschen; eine Hypothek, die dann die nächste Generation belastet.

2.2.1.2 Liebe und Ethik

2.2.1.2.1 Einflüsse

"Liebe und Ethik" heißt der Titel eines kleinen Bändchens, in dem die Hauptthesen des umfangreichen Werkes "Über Liebe und Ehe" noch einmal zusammengefasst werden.

Wenn Ellen Key über Sittlichkeit spricht, so verwendet sie diesen Begriff oft synonym mit Glücksmoral, Glückslehre oder auch Glücksethik.

Einfluß auf die Entwicklung ihrer Ethik haben nach eigener Aussage vor allen anderen Baruch de Spinoza (1632-1677) und Johann Wolfgang von Goethe genommen.

Ellen Key findet sich wieder in Spinozas Gedanken zum Lebenswillen, zum Selbsterhaltungstrieb, zur Naturauffassung und im "tiefsten aller Gedanken, Spinozas Gedanken, dass Freude Vollkommenheit ist." (Ü.L.u.E.:59 und L.G.:290) [20]

Spinozas Anthropologie, die von der Parallelität der Attribute Denken und Ausdehnung in Gott ausgeht, hat Ellen Key ebenso aufgenommen wie seine Affektenlehre.

Goethe stand ihr durch seine pantheistische Glaubensauffassung nahe, auch durch seine Gedanken über die Liebe. Den Evolutionsgedanken sah sie in seinen Arbeiten zur vergleichenden Morphologie schon angedeutet. (L.G.:273 f.)

Die Werke nordischer Dichter bestimmen Ellen Keys Denken, wie sie selbst betont : Carl Jonas Love Almquist (1793-1866), Henrik Ibsen (1828-1906) und Björnstjerne Björnson (1832-1910).

Ellen Key widmet Ibsens Individualismus einen Essay [21].

Björnson ist nicht nur Dichter, sondern auch Journalist und Politiker. Als Anhänger des Entwicklungsgedankens fordert er eine neue Ehemoral und die Gleichberechtigung der Frau.

Almquist, der in seiner Dichtung soziale Fragen behandelt und die kirchlich institutionalisierte Ehe in Frage stellt, weil ihm die sittlich-moralische Grundlage wichtiger ist, zeigt wiederum durch Schleiermacher und Comenius beeinflusste Gedanken.

Auch die Ansichten eines Ludwig Feuerbach, August Comte und Herbert Spencer finden in Schweden ihre Anhänger und waren auch Key vertraut.

Einflüsse aus England (Charles Darwin, Francis Galton, John Stuart Mill und Harriet Taylor) führten u. a. zu einer Epoche, die man "Det moderne gennemrud" (Der moderne Durchbruch) nennt. [22]

Darwin hat immer versucht, zwei Gebiete genügend klar auseinanderzuhalten: den Entwicklungsgedanken als solchen und den Versuch, diese offensichtliche Tatsache der Evolution von Pflanzen, Tieren und Menschen ursächlich zu erklären. Doch er verwirft auch das Prinzip Lamarcks nicht, nach dem erworbene Eigenschaften vererbt werden können. Darwin schreibt sein Buch etwa sieben Jahre, bevor Gregor Mendel die Vererbungsgesetze entdeckt und lange bevor die moderne Genetik entsteht. Mit wissenschaftlicher Ehrlichkeit bekennt er: Die Gesetze, welche die Erblichkeit beherrschen, sind zum größten Teile unbekannt. (Hemleben, 1968:107ff.)

Sein Vetter F. Galton veröffentlicht 1865 die Schrift > Heriditary talent and charakter< , in der er auf die Erblichkeit v.a. der psychischen Eigenschaften hinweist. Durch > Hereditary genius, its laws and consequences< (1869) gilt Galton als Mitbegründer der Eugenik, der er den Namen gibt.

Neben Malthus > Essay on the Principle of Population< (1798) diskutiert E. Key die Forschungsergebnisse von Alfred Russel Wallace, dessen Veröffentlichungen über die natürliche Zuchtwahl durch Auslese im Kampf ums Dasein (1858) Darwin veranlaßten, seine eigenen Forschungsarbeiten zu publizieren.

Diese Themen haben Key sehr interessiert, denn sie schreibt in den Anmerkungen zum 1.Kap. des J.d.K: "Trotz meiner Versuche, von Sachverständigen genaue Mitteilungen über die neuere Literatur über ‘eugenics’ zu erhalten, ist es mir in dieser Richtung nur gelungen, mir folgende Arbeiten zu verschaffen:..." [23]

2.2.1.2.2 Ellen Keys Ethik

Bei Ellen Key findet man den Gedanken der Veredlung der menschlichen Gattung durch Liebe und bewusste Auswahl. Ihre "erotische Sittlichkeit" ist aber nie "von Staats wegen" verordnet, sondern in einem persönlichen Verantwortungsgefühl begründet, dem volonté générale ähnlich, der hier alle an ein Sittengesetz bindet, dass die Individuen sich selbst gegeben haben.

"Aber die Pflichtensphäre, die sich immer erweitern wird ist die, die das Recht des Kindes umschließt (...) Dann wird man das Kind, das sein Leben von gesunden, liebenden Menschen empfangen hat und das dann in Weisheit und Liebe erzogen wird, ein ‘eheliches’ nennen, auch wenn seine Eltern sich in voller Freiheit vereinigt haben." (J.d.K.:33)

Die Liebe, die die weibliche und männliche Sittlichkeit veredeln soll, schließt Liebe zum Kind, welches aus dieser Verbindung hervorgeht, ein.

Damit grenzt sie sich ab von den auch von ihr so genannten "Rasseveredlern" , denen es ihrer Meinung nach genügt, wenn lieblose Eltern ein körperlich gesundes und kräftiges Kind hervorbringen. Sie zitiert Disraeli "einen der hervorragendsten Repräsentanten des Judentums" mit den Worten: "Rasse ist alles; es gibt keine andere Wahrheit, und jede Rasse, die sorglos Blutvermischung zuläßt, geht unter." fügt aber ihrerseits hinzu, dass andere Gelehrte gewisse Rassemischungen für höchst ersprießlich halten. (J.d.K.:27)

Keys "erotischer Individualismus" soll immer dem Ganzen dienen, ihr Ziel ist nicht Nietzsches Übermensch sondern die Übermenschheit;" (Ess.:13)

"Kein Dichter hat reichere Worte über das Wesen der grossen Liebe gesagt. Aber keiner hat den neuen Willen des Weibes zu eben dieser Liebe weniger verstanden. Kein Seelenforscher der neueren Zeit hat tiefere Entdeckungen in der Menschennatur gemacht, aber für keinen hat "Mensch" einseitiger "Mann" bedeutet. (Ü.L.u.E.:99)

2.2.1.2.3 Bezüge zu Deutschland

Helene Stöcker und Maria Lischnewska vertreten im kaiserlichen Deutschland sehr ähnliche Thesen. Mit SelbstBewusstsein und Zivilcourage packen sie Fragen der Sexualmoral und der Sexualethik an. Sie gehören zu einer Minderheit ungewöhnlicher und auch privilegierter Frauen, die es wagen, zwischen Sexualität und Politik, zwischen Rechtsstellung der Frau, Mutterschaft und Unterdrückung Verbindungslinien zu ziehen. [24]

Helene Stöckers Studienfächer - sie hat eine Ausnahmegenehmigung - sind Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Sie kennt ebenfalls das Werk Friedrich Nietzsches und stellt seinem "Übermenschen" ein erweitertes Konzept einer "neuen Menschheit" gegenüber.(Stöcker, 1906:65f.)

Sie will weder wie ein Mann sein, noch seine Weltanschauungen übernehmen: ‘Werde, die du bist’ heißt ihr Motto, und ihre ‘neue Ethik’ und Sexualreform, die sie in dem von ihr gegründeten "Bund für Mutterschutz und Sexualreform"[25] vertritt, bedroht die Grundfesten der bürgerlichen Ordnung:

Anerkennung von Lebensgemeinschaften ohne Ehe, Gleichstellung der unehelichen Kinder, Einführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung, Sexualaufklärung und Empfängnisverhütung, ökonomische Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Frau, Selbstbestimmung über ihren Körper; Recht auf Freiheit und Liebe (Stöcker, 1906:20)

H. Stöcker redigiert von 1905-1907 die Zeitschrift "Mutterschutz, Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik"; von 1908-1933 "Die neue Generation", in der auch Ellen Key Artikel veröffentlicht (1913).

H. Stöcker beteiligt sich selbst an der Debatte, widerspricht aber überall da, wo Geburtenplanung als "staatlicher Gebärzwang" im Interesse der Zahl oder gar eines "Rassezüch-tungsprogramms" erwogen wird. Sie ist Anhängerin der "malthusian league", die für Geburten-kontrolle eintritt, - als Mittel sozialer Reformen - und sich davon auch eine "Höherentwicklung der Menschheit" der "menschlichen Rasse" (daher "Rassenhygiene") verspricht.

2.2.1.2.4 Schwierigkeiten

Ellen Key vertritt mit wenigen Abweichungen (Zahl der Kinder) ähnliche Vorstellungen; von Malthus sagt sie, dass er sein Werk schrieb, um Kindersterblichkeit und Kindermord zu verhindern: "Persönlich ein ebenso untadeliger wie zartfühlender Mensch, musste Malthus, wie alle anderen Reformatoren der Sittlichkeitsbegriffe, unverschämte Beschuldigungen der Verderbtheit und Unsittlichkeit über sich ergehen lassen. Dasselbe widerfuhr Harriet Martineau." (J.d.K.:21) [26]

Harriet Martineau schreibt 1837 das klassische Werk >Society in America<, das neben Tocquevilles >Democracy in America< bzw. >De la démocratie en Amérique< die informativste Schrift ist, die von Europäern des 19. Jahrhunderts über das Funktionieren demokratischer Prinzipien in der amerikanischen Gesellschaft verfasst wird. Ökonomie, Frauenfrage und sozialer Fortschritt werden hier auch bereits als zusammenhängend begriffen. [27]

Nicht verschwiegen werden soll in diesem Kontext, dass Ellen Key sich nicht scheut, ein weiteres gesellschaftliches Tabu anzusprechen: Die christliche "Milde" einer Gesellschaft, die den Krieg und die Todesstrafe gestattet, die kleine Kinder zu Tausenden in Fabriken schickt, die das uneheliche Kind samt der Mutter stigmatisiert, aber "das Leben des psychisch und physisch unheilbar kranken und mißgestalteten Kindes zur stündlichen Qual für das Kind selbst und seine Umgebung verlängert". (J.d.K.:30)

Key meint, dass die Ehrfurcht vor dem Leben nicht groß genug sei, solange nicht ausschließlich Barmherzigkeit den Tod gibt.

Auf diese gesellschaftlichen Widersprüche hinzuweisen ist gefährlich, nicht nur Ellen Key ist vorgeworfen worden, sie würde diese Widersprüche nicht nur beschreiben, sondern auch Maßnahmen konkret befürworten.



Fußnoten:
[6] Vgl. auch Rosenbaum, 1974, S.179f

[7] Vgl. Nyström-Hamilton, 1904, S.12: "Morgens und abends gab es nur Milch und Brot. Bedienung kam niemals in Frage."

[8] Dazu die Angaben bei R. Dräbing,1990, S. 28 ff

[9] Der Vorname Emil soll durch die Begeisterung der Urgroßeltern für Rousseau in der Familie üblich geworden sein. (Nyström-H, 1904: 3)

[10] rekonstruiert nach den Briefen und Anmerkungen : Rainer Maria Rilke, Ellen KEY, Briefwechsel , herausgegeben von Theodore Fiedler, Frankfurt 1993

[11] In einem Prospekt " ELLEN KEYS STRAND" von 1995 heißt es : har ELLEN KEY sagt. Det var främst der utländska upplagorna av hennes skrifter som finansierade bygget.
(deutsch: Die Bücher bauten das Haus. Es war wegen der ausländischen Auflagen ihrer Schriften, die das Haus finanzierten.)

[12] Vgl. Rilkes Brief an Hanna Pauli (Anhang)

[13] Letzter Satz aus "Über Liebe und Ehe"

[14] aus Rilkes Rezension im Bremer Tageblatt, in Fiedler, 1993:250

[15] ROUSSEAU weist nicht nur darauf hin, dass der Schöpfer der Natur es so gewollt hat, sondern sieht auch ein größeres Interesse der Frauen am Erziehungserfolg: " ...und dann heftig zu spüren bekommen, ob sie ihre Kinder schlecht oder gut erzogen haben."(1995:108) Nicht Altruismus, sondern Eigenliebe bildet die Grundlage des Verhaltens.

[16] Corregio (um 1489 -1534)schuf religiöse und mythologische Darstellungen, in denen die Wirkung des Lichts eine große Rolle spielt; hier: Die Geburt Christi, gen. die Nacht (Anhang)

[17] Ellen KEYs Denken ist wahrscheinlich durch philosophische Betrachtungen H. SPENCERS zum psycho-physischen Parallelismus beeinflusst

[18] zur Erläuterung: Rilke versieht sein Buch :"Geschichten vom lieben Gott" mit der Widmung: MEINE Freundin, einmal habe ich dieses Buch in ihre Hände gelegt, und Sie haben es lieb gehabt, wie niemand vorher. So habe ich mich daran gewöhnt, zu denken, dass es Ihnen gehört. Dulden Sie deshalb, dass ich nicht allein in Ihr eignes Buch, sondern in alle Bücher dieser neuen Ausgabe Ihren Namen schreibe; dass ich schreibe: DIE GESCHICHTEN VOM LIEBEN GOTT GEHÖREN ELLEN KEY, Rainer Maria Rilke. Rom, im April 1904 (in: Fiedler, S. 337); - ebenso die Symbolik des "Heiligen Kindes", bzw. "der Heiligen Familie"

[19] Wenn man berücksichtigt, dass heute Menschen durch Werbespots zur ,Selbstverständlichkeit¹ erzogen werden sollen, die tödliche Krankheit AIDS als Möglichkeit zu berücksichtigen, sind KEYs Vorstellungen ebenso akzeptabel.

[20] Vgl. Schillers "Ode an die Freude", der den ,Götterfunken¹ mit Brüderlichkeit (Mitmenschlichkeit) und Sanftheit verbindet.

[21] Ellen KEY: Die Wenigen und die Vielen. Neue Essays.1905:127 ff.

[22] Vgl. Wilhelm Friese, Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1971

[23] hier folgt eine Liste von drei englischen, 16 französischen und 7 deutschen Werken zu diesem Thema

[24] Vgl. Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der Deutschen Frauenbewegung: 265 ff.

[25] Der Bund dt. Frauenvereine wandte sich entschieden gegen die "neue Ethik" und den 1905 von H.Stöcker gegründeten ,Bund für Mutterschutz und Sexualreform¹! in: Nave-Herz, 1988: 43 f.

[26] Vgl. zum Thema Empfängnisverhütung/ Strafbarkeit - auch der Aufklärung darüber: Janssen-Jurreit, S.201 ff.

[27] Vgl. Janssen-Jurreit, 1976:194 ff.