Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
<< back:
next >> :
Inhaltsverzeichnis
Kritische Würdigung der von Ellen Key genannten Vorbedingungen und Forderungen, die das 20. Jahrhundert zu einem "Jahrhundert des Kindes" machen sollten



2 Hauptteil

2.1 Die Bedeutung der Familie in Ellen Keys Biographie

2.1.1Kindheit

Ellen Karolina Sophie Key wird 1849 auf dem Gut Sundsholm als erstes von sechs Kindern geboren. Sie bezeichnet sich selbst als Kind "junger und glücklicher Eltern" (Nyström-Hamilton,1904:9). Dies unterstreicht auch die ihrem Buch "Über Liebe und Ehe" vorangestellte Widmung:

Auf dem ländlichen Besitz wächst sie mit ihren Geschwistern in einer harmonischen Familienatmosphäre auf. Die Lebensweise des gutsituierten und gebildeten Landadels sowie der größeren Erb- und Freibauern in Schweden, Dänemark oder Norwegen ähnelt in vielem dem Leben dieser Stände im protestantisch geprägten Norddeutschland, wie z.B. Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Vorpommern (erst 1814 von Schweden getrennt) oder Ostpreußen. Kennzeichnend ist die repräsentative Rolle des Hausherrn nach außen und die ebenfalls repräsentative Rolle der Hausherrin (nicht Hausfrau!) nach innen. Die Frau in der Landwirtschaft ist im allgemeinen die Mitarbeiterin des Mannes. [6]

Die Kinder werden einfach erzogen [7], genießen viele Freiheiten, Erziehung und Bildung erfolgen meist zu Hause, durch die Eltern und mit Hilfe von Hauslehrern.

Auch Ellen Key wird ab sechs Jahren von einer schwedischen und einer deutschen Lehrerin unterrichtet. Mit vierzehn Jahren erhält sie zusätzlich Unterricht in französischer Sprache. Lehr- und Lesestoff ist daneben die Bibliothek ihrer Eltern, die Werke der europäischen Literatur und Geschichte, Philosophie, Politik und Naturwissenschaft umfasst.

2.1.2 Häusliche Atmosphäre

Der Rhythmus der Jahreszeiten und das bäuerliche Selbstverständnis, in einer langen Abfolge von Generationen zu stehen, die jeweils den familiären Besitz treuhändlerisch zu verwalten, möglichst zu mehren und weiterzugeben haben, prägen auch Ellen Keys Familienbegriff.

Auf den versorgungswirtschaftlich autonomen Gütern und größeren Höfen im Ostseeraum haben sich diese Auffassungen lange tradiert. Zwischen den oft einengenden Erziehungsmethoden der "bürgerlichen Familien" in den Städten und der Erziehung auf dem Lande bestehen zeitgleich größere Unterschiede, als zu den ländlichen Erziehungsformen noch bis zum Beginn des 2. Weltkrieges. Marion Gräfin Döhnhoff (Kindheit in Ostpreußen 1988) vermittelt ein anschauliches Bild davon, besonders in den Kapiteln: Viele Verbote - ebenso viele Übertretungen, Die eigentlichen Lehrmeister, Im Rhythmus der Jahreszeiten.

So könnte auch Key ihre Jugendzeit beschrieben haben:

"Dann beginnt die Zeit des Buches. Mit fünfzehn Jahren habe ich alles verschlungen, was in den Bücherschränken stand.... Aber kein Autor, auch kein Lyriker, kann poetischer sein als jene herbstlichen Morgen, an denen man noch im Dunkeln zum Pirschen aufbricht. Wenn die Sonne aufgeht und in ihren ersten Strahlen der Tau auf den Wiesen wie Diamanten funkelt, wenn der ferne See durch die Bäume schimmert, dann fühlt man sich dem Wesentlichen zum Greifen nah. Nicht nur die Augen, die solch unbefleckte Herrlichkeit schauen, nicht nur das Gehör, das die lautlose Stille aufnimmt - in solchen Momenten ist es, als sei der ganze Mensch durchlässig für das Wunder der Schöpfung." (S.111)

Ehen, die auf gegenseitiger Zuneigung beruhen, und die Idee des "Wachsenlassens" in der Kindererziehung findet man jedoch auch in den weniger privilegierten Schichten der bäuerlichen Familien:

Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren beginnt ihr Buch "Das entschwundene Land" mit folgenden Worten: "Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe: Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, dass sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten."

Sie erzählt von dem Hof auf Näs in Smaland, von ihren Eltern, von Spielen mit Geschwistern und Freunden, den Mägden und Knechten. Und von dem grenzenlosesten aller Abenteuer, dem Leseabenteuer, das für sie eines Tages in einer kleinen Häuslerküche begann.

Die Beobachtung der Natur im Kreislauf des Jahres, des Wachsens und Werdens in Pflanzen- und Tierwelt, führen zu einer unverklemmten Auffassung des Natürlichen, einer "Ehrfurcht" vor dem Lebendigen, so dass Ellen Key später an der Mädchenschule ohne falsche Scham von der Fortpflanzung des Menschen spricht."... Zu uns Backfischen, in diesem unleidlichsten aller Alter, dem goldenen Alter der Süßigkeiten, der Bleichsucht und der unverdauten Kenntnisse, redete sie so, dass wir unsere Köpfe in Nachsinnen und Scham senkten. Und zugleich empfanden wir ein gewisses Gefühl des Stolzes darüber, dass jemand uns wie Menschen behandelte - oder als ob wir Menschen werden sollten."(Nyström-Hamilton,1904:42)

Weil man sich heute kaum mehr eine Vorstellung davon macht, wie rigoros alles Geschlechtliche vor Kindern und besonders vor den Mädchen (Reinheit = Unwissenheit) in der bürgerlichen Erziehung ausgeklammert werden sollte, mögen ein paar Beispiele die Gepflogenheiten erläutern:

"Fragen später die Mädchen, wie es denn eigentlich mit den kleinen Kindern zugehe? so sage man: der liebe Gott gibt der Mutter das kleine Kind, das seinen Schutzengel im Himmel hat, der gewiß unsichtbar dabei geschäftig war, als wir so große Freude erlebten."(von Raumer: 1893:399)

Jean Paul: "§ 129...woher aber das kleine Menschlein? Antwortet: ‘Vom lieben Gott, wenn die Menschen einander geheiratet haben und nebeneinander schlafen.’ - Mehr wissen auch wir erwachsenen Philosophen von der ganzen Sache nicht."(in Scheuerl: Die Pädagogik der Moderne, 1992:124).

2.1.3 Jugend- und Erwachsenenalter

Die heranwachsende Ellen Key hat in der Familie Pflichten zu übernehmen; neben der Hausarbeit, der sie nicht viel abgewinnen kann, übernimmt sie die Erziehung und den ersten Unterricht ihrer jüngeren Geschwister. Mutter und Vater fördern ihre intellektuellen Anlagen (Nyström-H.,1904:21).

Zwischen Vater und Tochter besteht ein sehr herzliches Verhältnis. Emil [9] Key ist als Abgeordneter der Bauernpartei (Lantmannapartiet) ab 1867 Mitglied des schwedischen Reichstags geworden. Die Familie verbringt aus diesem Grund den Winter in Stockholm, wo die 19jährige Ellen sich als Mitarbeiterin ihres Vaters mit politischen und gesellschaftlichen Problemen beschäftigt. Er ermuntert sie zu eigener schriftstellerischer Tätigkeit, nachdem sie zuerst als seine Sekretärin gearbeitet hat. So veröffentlicht sie Artikel in einer von der Frauenrechtlerin Sophie Adlersparre herausgegebenen Zeitschrift und im liberalen "Aftonbladet". Sie studiert und unternimmt Reisen durch Europa. 1880 kommt es in Schweden zu einer Landwirtschaftskrise und zu finanziellen Schwierigkeiten der Familie. Das Gut Sundsholm muss verkauft werden, und Ellen Key zieht nach Stockholm, um dort an einer Mädchenschule eine Tätigkeit als Lehrerin aufzunehmen. Außerdem hält sie Vorlesungen am Arbeiterinstitut, vor allem vor jungen Arbeiterinnen.

Ihr schriftstellerisches Werk, das ihren Ruf als Frauenrechtlerin, Pädagogin, Literatur- und Kulturkritikerin in Skandinavien und Deutschland begründet, entsteht. Es gibt auch den Anstoß zur Gründung der "Göteborgs Högre Samskola (1901), die auch Rilke 1904 besichtigt und über die er einen Aufsatz schreibt (Fiedler,1993:265).

Nach dem Erfolg ihres Buches "Das Jahrhundert des Kindes" gibt Key 1903 ihre Tätigkeit als Lehrerin und Dozentin auf, um sich dem Schreiben ganz zu widmen. Bis Anfang 1905 wohnt sie in einem kleinen Haus auf dem Gut ihres Bruders in Oby, Smaland. Nach wechselnden Wohnsitzen in Schweden und Europa, häufig als Gast von Freunden und mit Vortragsreisen verbunden, zieht sie 1911 in ihr eigenes Haus Strand am Vätternsee. Sie setzt ihre schriftstellerische Tätigkeit mit Büchern, Aufsätzen und Rezensionen fort und stirbt 1926 in Strand. [10]

In ihrem Testament bestimmt Ellen Key, dass Haus und Vermögen in eine Stiftung eingebracht werden, die das Haus als Sommerheim erhält für arbeitende Frauen, die keine Mittel haben, sich zu erholen und zu bilden. [11]

2.1.4 Familienbegriff

Obwohl sie selbst keine "eigene" Familie, im engeren Sinne von Heirat und Mutterschaft, gründet, ist ihr die Zugehörigkeit zu ihrem Familienverband wichtig. Das erkennt man u. a. beim Lesen des Briefwechsels zwischen E. Key und R.M. Rilke (Fiedler, 1993).

Im Herbst des Jahres 1902 richtet der 26jährige Rilke seinen ersten Brief an die damals 52jährige Ellen Key, die er nicht persönlich, sondern als Leser und Rezensent des "Jahrhunderts des Kindes" kennt und bewundert. Er erhofft von ihr einen Rat in einer schwierigen Lage: Nach Heirat und Geburt des ersten Kindes in Worpswede möchte seine Frau Clara Westhoff sich wieder ihrem Beruf als Bildhauerin "mit ungetheilter Kraft" widmen und dazu zu Rodin nach Paris gehen (1. Brief, S. 4). So bittet er um Vermittlung eines "hülfreichen Menschen", der sich im Sinne Ellen Keys um die noch nicht einjährige Tochter Ruth kümmern könnte.

Es entwickelt sich eine Korrespondenz, die bald sehr herzliche Züge annimmt. Im Februar 1903: "Liebe Leute! Ich habe mir sehr nach ein Wort von Ihnen gesehnt! Sie und Ihre Frau sind ELLEN KEY so ein bischen als Kinder geworden seit Herbst." (S.7) Im März fragt sie ihn, ob er nicht ein Kind aus altem Geschlecht sei, mit ähnlicher Vorgeschichte, weil man ähnlich denke und fühle: "Ich selbst bin von meine Mutter Seite (eine Gräfin Posse) mit das beste Blut Schwedens, mit deutsche Kaiser und nordische Könige verwandt und seit unser Gustav Adolph - meine schottische Familie ein Zweig aus der große Klan Mac Key - ist mir die meines Vaters. Aber nur Krieger, Gutsbesitzer und Rechtsanwälte, nie Priester oder Kaufmann!"(S. 19)

Sie bittet ihn, ihr von seiner Familie zu erzählen, was er auch umgehend, ausführlich und mit großem Vertrauen tut. "Ihnen aber habe ich geschrieben, wie ich so einer Mutter geschrieben haben würde, oder einer älteren Schwester, die mehr vom Leben weiß als ich."(S. 28)

Im Verlauf des Briefwechsels baut sich allmählich eine fast familiäre Beziehung auf, wobei Rilke Bedürfnisse nach mütterlicher Zuwendung, die er bei seiner eigenen Mutter entbehrte, nachzuholen scheint ( s. auch Brief vom April 1903): "Liebe gute Ellen, mit allen, allen Wünschen komme ich zu Dir; es sind gar keine Wünsche in mir welche nicht Dir gelten, so wie es ist, wenn ein Kind zu seiner Mutter Geburtstag kommt.(...)In Liebe Dein Rainer Maria." (1904) Key: "Für heute lebe wohl, mein innig liebes Kind. Kuss und Gruß für Ruth und Clara!" (1908)

Die dazugehörigen Ablösungs- und Abgrenzungsprozesse sind etwa ab Mitte 1906 zu beobachten, Vertrauen und Zuneigung aber bleiben: "Dein von Herzen ungezogenes Kind: Rainer" (1913).

2.1.5 Zusammenfassung

Ellen Keys Familienbegriff ist einerseits traditionell geprägt: Stolz auf ihre Herkunft aus altem Geschlecht, Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber, Vertrautheit und Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihren leiblichen Geschwistern, den Neffen und Nichten.

Von Freunden wird sie als eine sehr mütterliche Frau geschildert. [12]

Andererseits gibt es für sie die durch Ähnlichkeit des Fühlens und Denkens begründete tiefe Freundschaft oder Liebe zwischen Individuen, die den Charakter von Wahlverwandtschaften annehmen können.

Beides verbindet sich für sie, wenn Mann und Frau, aus verschiedenen Familienverbänden kommend, sich füreinander in Freiheit und Verantwortung entscheiden - "Die, die sich lieben, sind Mann und Frau." [13] - und schließlich durch das Kind eine neue Familie begründen.


Fußnoten:
[6] Vgl. auch Rosenbaum, 1974, S.179f

[7] Vgl. Nyström-Hamilton, 1904, S.12: "Morgens und abends gab es nur Milch und Brot. Bedienung kam niemals in Frage."

[8] Dazu die Angaben bei R. Dräbing,1990, S. 28 ff

[9] Der Vorname Emil soll durch die Begeisterung der Urgroßeltern für Rousseau in der Familie üblich geworden sein. (Nyström-H, 1904: 3)

[10] rekonstruiert nach den Briefen und Anmerkungen : Rainer Maria Rilke, Ellen KEY, Briefwechsel , herausgegeben von Theodore Fiedler, Frankfurt 1993

[11] In einem Prospekt " ELLEN KEYS STRAND" von 1995 heißt es : har ELLEN KEY sagt. Det var främst der utländska upplagorna av hennes skrifter som finansierade bygget.
(deutsch: Die Bücher bauten das Haus. Es war wegen der ausländischen Auflagen ihrer Schriften, die das Haus finanzierten.)

[12] Vgl. Rilkes Brief an Hanna Pauli (Anhang)

[13] Letzter Satz aus "Über Liebe und Ehe"



Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
<< back:
next >> :
Inhaltsverzeichnis
Kritische Würdigung der von Ellen Key genannten Vorbedingungen und Forderungen, die das 20. Jahrhundert zu einem "Jahrhundert des Kindes" machen sollten