Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Inhaltsverzeichnis
Die Bedeutung des Vaters
Gesellschaft - Erziehung außerhalb der Familie



2.2.2.3.3 Elterliche Erziehung

Ellen Key will die Familie nicht aufheben, sondern stärken, vor allem durch Umgestaltung des Familienrechts, durch Unterstützung der Eigenverantwortung und durch Hilfen für Eltern, die aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen den Erziehungspflichten nicht genügen können.

Niemand solle glauben, dass Mutterliebe oder auch Vaterliebe ein naturgegebenes, unzerstörbares und von den Verhältnissen unabhängiges Gefühl sei. (W.u.V.:204)

Liebe ist vielmehr ein seelisch-persönliches Band, das sich durch scheinbar unbedeutende, stündliche, tägliche, jahrelange Einflüsse bildet, die zum Teil zufällig entstehen, zum Teil jedoch von den Erwachsenen vorgeordnet werden können. "Nie noch wurde ein Mensch zu viel geliebt, nur zu wenig, zu schlecht." (Ü.L.u.E.:255)

Erziehung im tieferen Sinne ist immer etwas Individuelles. Daher lieben auch Eltern nicht jedes ihrer Kinder in gleicher Weise. Das kann vom Individualitätsbegriff verstanden auch gar nicht anders sein.

Die Reaktionen der individuellen Persönlichkeiten - auch die der Eltern - sind aber wichtiger als eine künstliche Gleichheitsforderung.

Auch die Freiheit des Kindes ist keine absolute Freiheit. Das Recht des Kindes tritt nicht an die Stelle des Elternrechts, sondern gegenseitige Respektierung und Anerkennung als Mensch sind bestimmende Prinzipien. "Nicht dem Rechte, andere zum Spielball seiner Launen zu machen, sondern dem Rechte, sein volles starkes, persönliches Kinderleben vor einem Vater und einer Mutter zu leben, die selbst ein volles persönliches Leben leben, ein Leben, aus dessen Säften und Kräften das Kind schöpfen darf, dessen es zu seinem eigenen Wachstum bedarf." (J.d.K.:120)

"Das am stärksten 'konstruktive' Moment bei der Erziehung eines Menschen ist die "feste, ruhige Ordnung des Hauses, sein Friede und seine Schönheit. Die Herzlichkeit, die Arbeitsfreude, die Schlichtheit im Hause entwickeln Güte, Arbeitslust und Einfachheit im Kinde." (J.d.K.:108) Denn das Haus muss ein Heim "für die Seelen der Kinder werden, nicht nur für ihre Körper." (S.109)

Wenn Eltern aus ihrem Heim nur ein ,Schlaf- und Esslokal' machen, ist z.B. nicht damit zu rechnen, das sich zwischen Eltern und Kindern tiefere Beziehungen entwickeln. [42]

Dass die Eltern ja schließlich morgens, abends und an freien Tagen Zeit hätten, sich ihren Kindern zu widmen, lässt sie als Einwand nicht gelten.

Das Wesentlichste verliert man aus den Augen: "Dies ist, dass Zeit, mehr Zeit und noch mehr Zeit eine Bedingung der Erziehung ist, Ruhe die zweite. (...) Es gibt - was die Eltern noch allzu leicht vergessen - kein Gebiet, wo der rechte Augenblick bedeutungsvoller ist als bei der Erziehung. Die Handlung, die die Mutter am Morgen sah, darf sie erst abends am Bettchen des Kindes zur Sprache bringen; das Geständnis, das im richtigen Augenblick über die Lippen des Kindes gestürzt wäre, erhält der Vater nie, weil der Moment nicht benutzt wurde..." (Ü.L.u.E.:254)

"Mit Kindern in der richtigen Weise zu spielen, ist auch eine große Kunst." (J.d.K.:112) Es soll nicht geschehen, wenn die Kinder nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen: "beständig von den Erwachsenen verlangen, dass sie sie beschäftigen, das ist eine der allergefährlichsten Verzärtelungen der Gegenwart." (S.113)

Gefährlich ist dabei die Gewöhnung an Selbstsucht und geistige Abhängigkeit: "In den Händen der Eltern, die sich beständig benehmen, als wären die Kinder nur um ihretwillen da, und in den Händen der Eltern, die 'nur für ihre Kinder leben' fahren die Kinder gleich schlecht!" (J.d.K.:115)

Wenn sie davor warnt, Kinder allzu ängstlich zu bewachen, alle ihre Schritte zu unterstützen, ihnen Spiele zu erfinden, ihnen Bücher vorzulesen, nach ihnen aufzuräumen (S.111), dann sieht sie diese Gefahren nicht nur in der Familie bei 'hervorragenden' Eltern, sondern auch und vielleicht sogar besonders in den außerhäuslichen Erziehungseinrichtungen.

2.2.2.4 Zusammenfassung

E. Key entwickelt ein Familienbild "wie es sein müsste", sie versucht eine Gesamteinschätzung, sowohl dessen, was es zu bewahren gilt, als auch dessen, was zu verändern ist.

Ihrem Ideal oder Wunschtraum stellt sie wiederum praktische Gestaltungsbeispiele gegenüber; sie beschreibt handfeste Details des Erziehungsalltags und entwirft auf der anderen Seite ein Leitbild für die Familie, in der "fröhliche" Kinder zu selbstbestimmten, aber auch verantwortungsvollen Erwachsenen werden können.

Die Darstellungsform des Essays (schwed.:Tankebilder) oder der"Studie" wird von ihr bevorzugt.

Montaigne (1533-1592) ist nicht nur als Erziehungstheoretiker ihr Vorbild.

Er entwickelte die 'Essais' [43] als neue eigenständige Form meditierenden Denkens. Im Zentrum seiner Thematik (Philosophie, Politik, Geschichte, Religion, Erziehung, Literatur und persönliche Lebensführung) steht der Mensch. In der Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit der Welt soll er sich selbst finden. Der Gedanke der individuellen Autonomie prägt sein Erziehungskonzept - nicht eine Anhäufung von Wissen, sondern selbständige Aneignung nach dem Erfahrungsprinzip bilden eine Persönlichkeit aus, die verantwortlich handeln und urteilen kann und soll. (J.d.K.:123-127)

In "gerader absteigender Linie" (S.124) stammt Rousseaus Emile von Montaigne ab, neben Fénelon und Rollin Vertreter einer humanen Erziehung in Frankreich. Auch Goethe wird erwähnt, der den Emile das "Naturevangelium der Erziehung" genannt haben soll. (S.127ff.)

"Rousseaus Emile war der Protest und das Programm der Individualität. Er glüht von Rousseaus herrlichem, fruchtbarem Haß gegen den Schein, die Form, die Phrase, das Gespielte, das Gemachte, das Gekünstelte! Das Echte, Selbsteroberte, Selbstgeprüfte, das nennt er Erziehung, d.h. für den Mann. Dass er die Erziehung des Weibes mit ganz anderen Augen ansieht, ist der große Mangel seines Systems, während seine - und seiner Zeitgenossen - Auffassung des Kindes als von Natur fehlerlos der große Mangel seiner Psychologie ist." (S.128)

Dass er die kindliche Neugier, die Phantasie und das Gefühl zu wenig berücksichtigt und die Außenwelt allzu absichtlich anordnet, wird von Key kritisch angemerkt. In ihrer Kritik bezieht sie sich auf den Finnen Valfried Vasenius und sein Werk "Fantasiuppfostran" (Die Erziehung der Phantasie), Helsingfors 1893:

"Aber alle diese Wünsche bleiben Traumbilder, solange die Schule — trotz aller Versicherungen, dass ihr Ziel harmonische Allgemeinbildung sei — als wirkliche Aufgabe nur die hat (und in unserer Gesellschaft haben muss), den Schülern den Zugang zu einem Broterwerb zu erleichtern: Examen, nicht Bildung heisst dann ihr wirkliches Ziel" (Ess.: 327).

Von den Forschungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie (Wundt, Binet, Ribot u.a.) erhofft sie sich neue Erkenntnisse, die zum Wohl des Kindes eingesetzt werden könnten.[44]

Erziehung zum wahren Menschentum, zur Verantwortung jedes einzelnen für sich selbst und für die Gesamtheit bildet den Kern ihrer Aussage; der höchste Zweck der Kultur ist die Entwicklung zur Humanität. Alle Erziehung und auch die in der Familie herrschende Atmosphäre zielen darauf ab, Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen. Die menschlichen Beziehungen, in der Familie auf Verständigung, Zuneigung und Liebe ausgerichtet, sind nicht einförmig, sondern vielfältig in ihrer Qualität, so verschieden wie die Individuen selbst.

"Die Liebe zum Kind ist das Schönste an dem Buche, die tiefe Ehrfurcht der geistig hochstehenden Frau vor dem Eigenleben der kleinen Geschöpfe, vor dem neuen Quell des Lebens, der sich ihr da offenbart." [45]

Es ist auch nicht die Biologie, die die Menschen verbindet, sondern der Prozess des Gebens und Nehmens entwickelt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Vom ersten Lebenstag an sind Kinder eigene, nur sich selbst gehörende Persönlichkeiten, auch wenn sie Schutz und Hilfe benötigen. Kinder sind den Eltern, den Älteren überhaupt, nicht untertan, sondern ein eigenes Glied der Familie.

Die Familiengruppe mit ihrer emotionalen Wärme fördert den Erziehungsprozess, der auf Vertrauen baut. Jede Gruppe, in der Kinder so aufgehoben sind, kann Familie sein, z.B. bei Scheidung, Berufstätigkeit, Krankheit oder gar Tod der leiblichen Eltern: Der Inhalt - nicht die Form oder die Natur - ist das Entscheidende. (s. auch Ü.L.u.E.:427 - 447)

Familienerziehung als ,Primärsozialisation', wie man heute sagt, ist Vorbild für die gesellschaftliche Sozialisation, wobei der Weg auch schon ein Ziel ist, denn "Wer an eine für die Liebe und durch die Liebe vervollkommnete Menschheit glaubt, muss jedoch lernen, mit Jahrtausenden zu rechnen, nicht mit Jahrhunderten, noch weniger mit Jahrzehnten!" (Ü.L.u.E.:458)



Fußnoten:

[42] siehe das Kapitel Heimatlosikeit im "Jahrhundert des Kindes", S. 136 ff.

[43] Vgl. M. de Montaigne: Die Essais, 1993: 25 f.

[44] in den Anmerkungen des Kapitels Erziehung erstellt sie eine umfangreiche Literaturübersicht über Kinderpsychologie in vier Sprachen

[45] Rezension von "Das Jahrhundert des Kindes" der Nationalzeitung, abgedruckt in: Über Liebe und Ehe, 1905



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