Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Inhaltsverzeichnis
Gesellschaft - Erziehung außerhalb der Familie
Die heutige Situation im Vergleich zu den von Ellen Key erhobenen Forderungen



2.2.3.3 Wirtschaft und Arbeitswelt: Kinderarbeit und Kinderverbrechen

In diesem Kapitel tritt E. Key noch einmal eindringlich für die Rechte der Kinder ein. Diesmal richtet sich ihr Appell nicht an die Eltern und Erzieher, die aus Unwissenheit, Dummheit, Gleichgültigkeit, charakterlicher Schwäche oder auch existentieller Not den Kindern schaden. Ihre Kritik gilt gleichermaßen den erwachsenen Individuen und den von diesen geschaffenen staatlichen Ordnungen, z. B. durch Gesetzgebung und Bildungspolitik.

Jetzt klagt sie diejenigen an, die wissentlich, um eigener Vorteile willen, Menschen zu warenförmigen Dingen machen, die man für eigene Zwecke ausbeuten darf.

Am Schrecklichsten und menschlich Unwürdigsten erscheint ihr diese Haltung gegenüber Kindern.

Auch hier verfährt sie in der ihr eigenen Form: Aussagen, die sich auf konkrete Mißstände politischer und wirtschaftlicher Art beziehen, wechseln ab mit Aussagen, die den Blick vom Wirklichen zum Möglichen lenken sollen.

"Jeder einzelne Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, wartet nicht auf die Engel, sondern stürzt selbst herbei, um ein Kind aus einer Gefahr zu retten!" (J.d.K.:229)

Mit dieser Emphase können viele ihrer Kritiker nichts anfangen. Nicht wenige Zeitgenossen beklagen ein vermeintlich widersprüchliches und unwissenschaftliches Denken.

Ellen Key weiß das, behält aber selbstbewusst diese Form der Gestaltung bei, "für die ich dieselbe Berechtigung beanspruche wie die Schulphilosophen für die Ihre.(...) Und sicherlich wird niemand ein unsystematisches Denken an und für sich geringschätzen." Zum Gewährsmann führt sie Renan an: "Die Logik erfasst niemals die Nuance. Aber alle Wahrheiten, die von geistiger Natur sind, beruhen ganz und gar auf der Nuance." (Ü.L.u.E.: XIVu.XV)

Sie stellt deshalb die eindringliche Darstellung erbärmlicher Zustände: Überanstrengte Mütter, trunksüchtige Väter, feuchte Wohnungen, ungenügende Nahrung, "ausgemergelte, welke, wunde Kinderkörper" (J.d.K.:230) neben statistische Erhebungen: "In Deutschlands aristokratischen Familien sterben z.B. nach den letzten Berichten, die ich gesehen habe, von tausend Kindern jährlich 57, aber in Berlins armer Bevölkerung 345!" (J.d.K.:229)

"Schwangere Frauen, Kinder von 4 - 5 Jahren arbeiteten 14 bis 18 Stunden. (...) In Deutschland zeigt die Spielwarenfabrikation grausige Ziffern in bezug auf die Kinderarbeit, umso grausiger, als um glücklichen Kindern Freuden zu bereiten, anderen die Lebenskraft abgepreßt wird." (S.231)

Man macht die Menschen zu organischen Maschinen und geht sonntags in die Kirche, um sich Texte auslegen zu lassen wie "Was Ihr dem Kleinsten Gutes getan, das habt Ihr mir getan". (S.237)

Nach eindringlicher Schilderung menschenverachtender Zustände appelliert sie zum einen an den 'gesunden' Egoismus der Fabrikbesitzer, dass Gesundheit und höhere Bildung der Arbeiter sich langfristig auszahlt (S.235), zum anderen an die Reste eines religiösen Gewissens: Würdet ihr eure eigenen Kinder dort sehen wollen? (S.238)

Ihre Utopie formuliert sie so:

"Des galiläischen Zimmermanns flammender Gedanke - der Brüderlichkeit - wird den Menschen keine Ruhe lassen, bis er nicht den letzten Rest von Ungerechtigkeiten in den Gesellschaftsverhältnissen ausgetilgt hat."

2.2.3.4 Zusammenfassung

Individualität ist außerhalb und innerhalb der Familie für Ellen KEY das Wichtigste, gegenseitige Achtung und Anerkennung als Persönlichkeit das leitende Prinzip.

"Und was ist für Kinder das Vortrefflichste?

Goethe hat geantwortet:

Höchstes Glück der Erdenkinder

Ist nur die Persönlichkeit!..."(J.d.K:192)

Befehl und Gehorsam, Prügel und Gewalt haben keinen Platz. Die Erziehung soll zur Freiheit und zur sozialen Gerechtigkeit, zur Verantwortung und zum Frieden führen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder anders ausgedrückt: Einigkeit und Recht und Freiheit für das Menschengeschlecht - das ist Ellen Keys utopischer "Traum".

Ellen Keys Enklave der Erziehung ist und bleibt die Familie, die die natürliche Aufgabe hat, die Kinder auf das Leben vorzubereiten, während das staatliche Erziehungssystem die junge Generation immer auf seine Bedürfnisse zurechtstutzen wird, ohne auf die Individualität Rücksicht zu nehmen.

Die Ausführungen des jungen Humboldt (1767-1835) könnten fast von Key verfasst worden sein: "Endlich steht, dünkt mich, das Menschengeschlecht itzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher empor schwingen kann; und daher sind alle Einrichtungen, welcher diese Ausbildung hindern, und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, itzt schädlicher als ehemals...." (in:Fertig, 1984:233)

Seine antithetische Abgrenzungen: Sachen - Menschen, Massen - Individuen, äußerer Wert und Nutzen - innere Schönheit, Glück und Genuss, ausführlich publiziert in den > Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen<, zeigen weitgehende Übereinstimmungen mit Keys Positionen. (Flitner/Giel, 1960: 56-241)

2.2.4 Ausblick

Im Argumentationszusammenhang des Buches "Das Jahrhundert des Kindes. Studien" werden acht Problemkreise aufgezeigt, in denen aktuelle Aufgaben auf Lösung warten. Es geht vom scheinbar Besonderen zum scheinbar Allgemeinen:

  1. Bewusstsein - Mensch und Mitmensch: Kind, Frau, Mann
  2. Gesellschaft - Normen, Gesetze, Rechte
  3. Kultur - Erziehung, Bildung, Schule
  4. Nation - Bezugsrahmen von Tradition, Religion, Sprache und Kultur
  5. Wirtschaft - Ökonomie und Mensch
  6. Menschheit - Wandel des Bewusstsein, Zukunftsperspektive einer kulturellen Evolution, Frieden

--> damit schließt sich der Kreis - aber auf höherer Ebene; nach KEYS Auffassung bildet sich eine Spirale der Entwicklung.

Eine solche Gesamtschau innerhalb eines Buches ist ein Wagnis, das natürlicherweise dazu geführt hat, dass vielfältige Interpretationen möglich waren und sind.

"Bei all dem ist Key systematisch systemlos." (Lautenschläger, 1993:533)

Dieser Auffassung schließe ich mich nicht an; vielmehr habe ich versucht zu zeigen, dass das "Jahrhundert des Kindes" eine Komposition ist. Es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden, ob musikalische Stilformen wie Kontrapunkt oder Doppelfuge auf literarischer Ebene ausprobiert werden. Ihren späteren Werken hat sie nicht zufällig die Titel - "Tankebilder" oder "Lifslinier I,II und III"[51] , d.h. direkt übersetzt "Gedankenbilder" (Essays) oder "Lebenslinien" gegeben.

Die Verbreitung dieser Bücher in Europa war aber mit dem Auflagenerfolg des "Jahrhunderts des Kindes" nicht zu vergleichen.

Für alle Bücher gilt: KEY will die Welt nicht nur erklären, sondern verändern, will wachrütteln und einen Weg weisen. "So wie die Linien auf der Innenseite der Hand zusammenlaufen, sich schneiden und wieder trennen, so bilden auch die Zeitgedanken in ihren einander begegnenden oder sich kreuzenden Bahnen ein geheimnisreiches Liniennetz." (Aus der Vorrede zur schwedischen Ausgabe. Ö.L.u.E.:XI)

Ihre Rezeption SPINOZAS umschließt die von ihm beschriebenen Stufen der Erkenntnis: imaginatio - ratio - scientia intuitiva, wobei die Reflexionswahrheit gegenüber der Intuition immer zweitrangig ist. (LG:157ff) [52]

Frauen, so ihre Position, haben in dieser Richtung seit jeher mehr für die Kultur getan und sollten auch selbstbewusst darauf hinweisen: die Humanisierung des Gefühls gegenüber der Logik des Verstandes, die Bewahrung des Unwissbaren vor dem Wissen, den Sinn für das Mög-liche gegenüber dem Wirklichen, die Intuition gegenüber der Analyse. (Ess:27ff) Eine Angleichung der Geschlechter in dem Sinne, dass die Frau ein "besserer Mann" wird, ist daher abzulehnen.

U. HERRMANN spricht vom "Schauen des Wesentlichen, das unser Denken und Handeln bestimmen soll." (Nachwort zum J.d.K., 1992:256)

In der Familie soll das Kind etwas Qualitatives erfahren können: Die Wärme der Liebe, die immer etwas Individuelles ist, aber gleichzeitig vom Ich zum Du führt.

Es ist das Wesentliche, das später SAINT-EXUPERY so beschreiben wird: "- Vous n¹êtes pas du tout semblables à ma rose, vous n¹êtes rien encore, leur dit-il. Personne ne vous a apprivoisées et vous n¹avez apprivoisé personne. Vous êtes comme était mon renard. Ce n¹était qu¹un renard semblable à cent mille autres. Mais j¹en ai fait mon ami, et il est maintenant unique au monde." (Saint-Exupéry, 1946:72) Ihr Buchtitel könnte auch lauten:

"Das Jahrhundert des Kindes. Studien zur Freiheit."

Die Brücke zur heutigen Zeit ist eine Rede des Philosophen und Physikers Carl Friedrich von WEIZSÄCKER, die er 1990 anlässlich der Maueröffnung in Leipzig, Potsdam, Berlin und Bratslava gehalten hat. Ihr Titel:

Bedingungen der Freiheit (Lesebuch,1992:270).

Mit Ausnahme des umfangreichen pädagogischen Exkurses bei KEY findet sich hier ein nahezu identischer Aufbau.

Er gliedert seine Rede folgendermaßen:

  1. Bewusstsein
  2. Gesellschaft
  3. Wirtschaft
  4. Umwelt
  5. Nation
  6. Kulturkreis
  7. Menschheit

Der Sinn dieser Gedankenkette wird von ihm so erläutert:

"Die europäische Revolution der Freiheit entstammt einem Wandel des Bewusstseins. Die Men-schen haben erkannt, dass eine Ordnung der Gesellschaft ohne Freiheit nicht nur unwürdig, sondern auch ineffizient ist. Freiheit der Wirtschaft ist eines der großen Themen ge-worden. Löst aber die Wirtschaft des Markts die gesellschaftliches Probleme? Vermag sie, als ein wichtiges Beispiel, der Zerstörung der Umwelt zu wehren? Gesellschafts- Wirtschafts-, Umweltordnung werden innerhalb der Nation bestimmt. Aber die Nationen sind jeweils nicht allein in der Welt; unser eigener Kulturkreis, Europa, hat durch seine Kultur die Menschheit verwandelt. Wie begegnet die Menschheit den entstandenen Problemen? Sie bedarf eines Wandels des Bewusstseins. So schließt sich ein erstes Mal der Kreis." (1992:271)

Die Lebensprobleme, die Ellen KEY beschreibt und für die Schwächsten der Gesellschaft, für die Kinder, besonders akzentuiert, haben sich nach hundert Jahren eher noch verschärft:

"Rückschauend aus nun bald dem Jahr 2000 auf das Jahr 1900 müssen wir wohl mit Bitterkeit zugeben, dass es nicht das Jahrhundert des Kindes gewesen ist. Zu Ellen Keys Zeit war die Welt kleiner, als sie heute groß und global ist. Sie schaute allenfalls auf Europa, auf seine Mitte; wir wissen von einem Erdball und den nahezu 5 Milliarden Menschen auf ihm. Wir bekommen es gesagt und können es uns nicht vorstellen, dass jährlich auf dieser einen Erde 12 Millionen Kinder verhungern. Es sterben in 6 Jahren mehr Kinder im sogenann-ten Frieden, als in dem sechsjährigen Zweiten Weltkrieg gewaltsam Menschen ums Leben gekommen sind. Das Kind ist nicht, wie es Ellen Key gewünscht hatte, in den Mittelpunkt gerückt, die Hauptsache geworden, gar mit ihrer Vorstellung der >Heiligkeit der Generation< versehen worden. Die sich selbst so nennenden zivilisierten und modernen Industrienationen weisen vielfach eine Kinder-gleichgültigkeit, wenn nicht gar -feindlichkeit auf."
(Nalewski: Blätter der Rilke-Gesellschaft, 1990:170)



Fußnote:

[51] dt: Über Liebe und Ehe. Essays (I), Die Wenigen und die Vielen. Neue Essays (II), Der Lebensglaube (III); siehe auch Kap. 2.2.2.4 : Die Essais von Montaigne

[52] Vgl. Lautenschläger, S., 1993: 538



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