Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Inhaltsverzeichnis
Wirtschaft und Arbeitswelt: Kinderarbeit und Kinderverbrechen
Kulturkreis Europa



2.3 Die heutige Situation im Vergleich zu den von Ellen Key erhobenen Forderungen

Ellen Key hat, wie gezeigt werden konnte, vor knapp hundert Jahren den Versuch gemacht, in einer umfassenden Gesamtschau des Wesentlichen, Bedingungen einer humaneren Entwicklung aufzuzeigen.

Die Familie, von den Bedürfnissen des Kindes hergeleitet, spielt eine zentrale Rolle.

Ein Vergleich mit der heutigen Situation im Rahmen dieser Arbeit kann nur eine Auswahl sein, wie jede Wahrnehmung und mehr noch jedes Urteil eine Auswahl ist. Vergleichen kann man nur etwas Ähnliches.

Die Wahl ist auf Carl Friedrich von Weizsäcker gefallen, weil die Übereinstimmung der Problemfelder, die er in seiner Rede "Bedingungen der Freiheit" anspricht, für mich überraschend, aber auch bestätigend dafür ist, was Rilke 1904 so formulierte:

"Alles in uns ist Zustimmung und Jasagen dazu. Ja mehr noch, unser tiefstes innigstes Vorgefühl ist überall bei Ihren einfachen lebendigen Worten, die für sich allein, durch alle Parteien durch, auf die Zukunft zugehen, gerecht und unbeirrt und im wirklichen Wahrsagen gross." (Fiedler,1993:90, von mir hervorgehoben)

Carl Friedrich von Weizsäcker ist Wissenschaftler, der sein Leben der philosophischen Durchdringung der Naturwissenschaft widmen möchte. Er glaubt, dass diese Arbeit unmittelbar mit den Lebensproblemen unserer Zeit zu tun hat, und fühlt sich verpflichtet, sie nach seinen Kräften zu Ende zu führen. [53]

An einer Stelle sagt er: "Der Übergang des Denkens in die unsensible Kontrolliertheit der Wissenschaft läßt eine andere Funktion des Denkens, die seismographische, immer mehr der Kunst zufallen." (Weizsäcker, 1992:107, von mir hervorgehoben)

Weizsäcker ist in seinem gesamten philosophisch/naturwissenschaftlichen Denken bemüht um Gesamtwahrnehmung: "Politisches Denken, ein ganzheitlicher Zugang zur Wissenschaft und ein alles durchdringendes Bewusstsein für Ästhetik - diese Linien treffen und schneiden sich in Carl Friedrich von Weizsäcker." (Benzinger im Nachwort, Weizsäcker 1992:306)

Er meint, dass die Wissenschaft sich vor den Lebensfragen der Menschheit heute in einer Lage befindet, die jedem Arzt vertraut ist: Er kann nicht warten, bis die Medizin alles Wissen gesammelt hat und der Patient darüber hinweggestorben ist: Er muss eine diagnostische Hypothese wagen und ihr gemäß handeln.

So ist meiner Meinung nach auch Keys essayistisches Werk zu verstehen. Wenn sie schreibt, man möge nicht auf Engel warten, sondern herbeistürzen, um die Kinder zu retten (J.d.K.:229), so soll die Emphase die affektive Basis zum Handeln schaffen.

Der Gliederung, die er zur Darlegung der "Bedingungen der Freiheit" wählt und die viele Parallelen zum Aufbau des Buches "Das Jahrhundert des Kindes" zeigt (siehe 2.2.4), will ich mich im 3. Teil meiner Arbeit anschließen. Seine Methode ist der "Kreisgang", eine sich wiederholende kreisförmige Denkbewegung, die Vorläufigkeit und Zufälligkeit bewusst einschließt.

Bewusstsein

Gesellschaft

Wirtschaft

Umwelt

Nation

Kulturkreis

Menschheit

Menschheit

Kulturkreis

Nation

Umwelt

Wirtschaft

Gesellschaft

Bewusstsein und Bewusstseinswandel

Die Dichter und Denker, die für Ellen Key bedeutsam sind, nennt auch er: Spinoza, Goethe, Kant, Darwin, dazu in diesem Jahrhundert Einstein, Bohr, Heisenberg, Heidegger und Lorenz, dem Ähnliches wie Malthus und Darwin widerfuhr. [54]

Weizsäcker spricht von vielgestaltigen Aufgaben auf dem Weg zur Freiheit, deren Zusammenhang man erkennen muss. Der Ansatz zur Kritik könnte sich ergeben, weil dies "in einer Kette von Behauptungen geschehen (muss), deren jede eines ganzen Vortrags zur Begründung bedürfe." (Weizsäcker, 1992:270)

Aber er erklärt seine Bereitschaft, jede dieser Behauptungen zu verteidigen oder zu lernen, dass sie falsch waren. "Jede Antwort ist vorläufig." (Weizsäcker, 1992:317)

Auch der hier vorgenommene Vergleich muss unter diesem Vorbehalt gesehen werden.

Die Problemkreise des "Jahrhunderts des Kindes" werden in umgekehrter Reihenfolge zu seiner Analyse in Beziehung gesetzt

2.3.1 Der Rahmen: die Menschheit

Seit Magellan und Kolumbus die Europäer lehrten, dass die Erde eine Kugel ist, konnte sich der Begriff der Menschheit entwickeln. Technik und Herrschaft führten zur Errichtung einer noch fortdauernden ökonomischen Weltherrschaft des europäischen Kulturkreises, zu dem auch Nordamerika gehört.

Das Problem der Bedrohung ergibt sich aus dem Umgang mit der Macht, definiert als Verfügung über Mittel für freigehaltene Zwecke.

Technik, so sagt er, bedeutet Bereitstellung von Mitteln für Zwecke. Menschliche Zwecke sind freigehaltene Zwecke, da der Mensch, im Gegensatz zum Tier, innehalten kann: "Zwischen Reiz und Reaktion tritt beim zweckmäßigen Handeln ein Hiatus, eine Pause, die das Urteil erlaubt." (Weizsäcker, Technik als Menschheitsproblem, 1992:114)

Mittel für freigehaltene Zwecke zu haben, bedeutet Macht, besonders, wenn diese Mittel akkumulieren. [55] Nach dieser Definition ist Technik ein Mittel der Macht. Wer aber die Zwecke nicht erwägt, handelt gegen den Geist vernünftiger Technik. Alles Machbare zu machen, ist Missbrauch der Droge Macht.

Macht, unvernünftig gebraucht, bedroht die Gerechtigkeit, den Frieden, jetzt auch die Schöpfung.

Gerechtigkeit umfasst sowohl die Freiheitsrechte des Individuums als auch die soziale Gerechtigkeit, - Überwindung der Armut, des Verhungerns. Die Vertreter der "Entwicklungsländer" erkennen allmählich die ökonomische Diktatur des Nordens, eingeschlossen die der "sozialistischen" Länder.

Friede ist eine uralte Aufgabe der Menschheit. Konflikte wird es immer geben, aber Krieg als Form des Konfliktaustrags, verbunden mit Rüstungswettlauf, führt heute zur Gefahr der Selbstvernichtung.

Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden, ohne Frieden keine Gerechtigkeit. Diese christliche Hoffnung ist auch eine Forderung der aufgeklärten Vernunft. (Weizsäcker, 1992 Soziale Gerechtigkeit, S.151ff. und Bedingungen des Friedens, S. 57)

Bewahrung der Schöpfung, Umweltschutz, ist eine in diesem Jahrhundert neue Dimension, die sich aus der Macht der Technik über die Natur ergeben hat.

Das griechische Wort oikos bedeutet "Haus, Gehöft", logos heißt "vernünftige Rede". Demnach wäre Ökologie vernünftige Verwaltung des Wohnens in der Welt, in einer gemachten Ordnung also, die keinesfalls technikfeindlich sein muss.

"Vernunft aber bedarf einer affektiven Basis, um Handlungsmotiv zu werden. Die Hochreligion nennt diese Basis Nächstenliebe. (...) Gütige, wissende Macht, so dürfen wir glauben, ist nicht böse. Aber auf den Menschen im realen geschichtlichen Prozeß angewandt, kommt diese harmonisierende Betrachtungsweise zu früh. Sie ist eine unerfüllte Forderung". (Weizsäcker, 1992:119, von mir hervorgehoben)

Vor den beiden großen Weltkriegen formuliert Ellen Key noch wesentlich optimistischer: "Aber jetzt ist endlich die Kraft der Selbstlosigkeit so stark geworden, dass sie ohne die Stütze einer positiven Religion leben kann. (...) Wir brauchen nicht länger zu glauben, die Güte sei Gott, um zu fühlen, dass Güte göttlich ist". (W.u.V.:108)



Fußnote:

[53] Seine Aussage in einem Brief 1979 an Willy Brandt, in dem er erläutert, warum er der Bitte, zur Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten zur Verfügung zu stehen, nicht entsprechen kann. (Lesebuch: 247)

[54] siehe Punkt:2.2.1.2.4

[55] Vgl. in diesem Zusammenhang KEYS Forderung nach "Erblosigkeit" Kap. 2.2.3



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