Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Inhaltsverzeichnis
Kulturkreis Europa
Schlußbetrachtung



2.3.7 Bewusstsein und Bewusstseinswandel

Der Mensch, das zoon logon echon, hat ein subjektives Erleben, ein Bewusstsein von sich und von der Wirklichkeit.

Karl Bühler [60] hat gezeigt, dass dieses Bewusstsein die Annahme anderer erlebender menschlicher Subjekte einschließt, es ist ein unentrinnbarer Denkzwang, eine echt apriorische Notwendigkeit des Denkens, eine "Du-Evidenz.

Für organisches Leben, also auch für den Menschen, gelten drei Prinzipien: die Erhaltung des Individuums, die Erhaltung der Art, die Weiterentwicklung.

Die Erhaltung des Individuums hat die früheste, aber nicht die höchste Priorität, da sie Vorbedingung, aber nicht Ziel der Erhaltung der Art ist, geschweige denn der Weiterentwicklung.

Das Tier weiß davon nichts, aber der Mensch muss erkennen, dass er lange lebt, "weil seine Kinder seiner lange bedürfen." (Weizsäcker,1992:200)

Es eröffnen sich zwei Wege: Befreiung von den absoluten Interessen des Ich, Erkennen des Mitmenschen im Menschen - oder Verdrängung, d.h. Streben nach absoluter Macht und Herrschaft über die Natur, ein Leben nach dem Prinzip egoistischer Triebe.

Verdrängung gelingt im Bereich des Sexuellen am besten, wenn Sexualität und Fortpflanzung "dissoziert", was vor allem beim Manne beinahe häufiger ist, als das arterhaltend sinnvolle Zusammenwirken sozialer Triebe. (Lorenz, 1984:245)

Für den Menschen gibt es auch die andere Möglichkeit: Wenn Adam Eva in Liebe "erkennt", d.h. den Mitmenschen im Menschen wahrnimmt, so lösen sich die Schranken des Ich. Der Kern der Sittlichkeit ist eine Erlösungserfahrung von den Interessen des Ich, "ein Sehendwerden". (Weizsäcker, 1992:186)

"Die geschlechtliche Liebe soll hinreißend und herrlich sein, denn sie verlangt vom Individuum den einen unerläßlichen Schritt aus dem Verhaltensmuster der Selbsterhaltung heraus, der zur Arterhaltung nötig ist. (...) Für den Menschen aber ist die erotische Liebe neben der Sittlichkeit eine zweite völlig andere Art der Erlösung vom Ich geworden, die rückwirkend auf das Ich dieses zu einer ihm nun erst zugänglichen Reife treibt." (Weizsäcker, 1992:188) [61]

In seinem Aufsatz über Natur und Moral im Lichte der Kunst, schreibt er über Goethes "Wahlverwandtschaften": "Es ist aber kein Zweifel, dass Goethes Herz für Gretchen schlägt, dass Ottilie ihm selbst die geliebteste Frauengestalt in seinen Werken blieb." (Weizsäcker, 1992:217)

So kann auch nicht gezweifelt werden, dass Faust die Grenzen des Ich zunächst nicht überschreitet, also keine Erlösung erfährt. Die Liebe zu Gretchen ist eher Leidenschaft, das Kind, als Indiz seiner Sterblichkeit, wird von ihm nicht wahrgenommen.

Weizsäcker fragt sich und uns: "Ist das Denken in Machtkategorien nicht ein Symptom der Männergesellschaft, des Patriarchats? Und ist das nicht wider die Natur?"

Er kommt zu folgendem Schluss: Das Patriarchat ist das eigentlich tierische gesellschaftlicher Organisation, denn wir finden es auch bei den Primaten.

Das häusliche Matriarchat in der kleinen Gesellschaft, die gleichberechtigte Aufteilung in einen inneren und äußeren Bereich, aus vernünftigen Erwägungen, ist dagegen viel eher ein Humanum. Denn Weiterentwicklung können wir uns nur im Bereich des Menschlichen, der Humanität, denken, da Arterhaltung Voraussetzung bleiben muss.

Die große Gesellschaft der Hochkulturen, besonders aber unsere technisierte Zivilisation organisiert die menschliche Gesellschaft sekundär wieder patriarchalisch. (Weizsäcker, 1992:265)

Wissen, Macht und Geld werden in der großen Gesellschaft unserer technischen Zivilisation zu zentralen Begriffe, die im Wettlauf der Konkurrenz akkumulieren. Da die patriarchalische Struktur von Machtkonkurrenz und Kampf dominiert, ergibt sich ein Zwang zu immer stärkerer Konzentration, zu Rücksichtslosigkeit und Egoismus: die Macht "luxuriert". (Weizsäcker, 1992:267)

Mit dem Mittel des Geldes soll sogar das mitmenschliche Verhalten der Menschen quantifiziert, d.h. messbar gemacht werden. Damit wird etwas be- und verwertet, was zutiefst Freiheits- und Geschenkcharakter hat.

"In den persönlichen Beziehungen der kleinen Gesellschaft, etwa bei uns noch in der Familie, besteht geradezu ein stillschweigendes Quantifizierungsverbot für die gegenseitigen Leistungen."

Da der neutrale Wertmaßstab des Geldes aber gerade von der Individualität abheben soll, schließen sich quantifizierende Messung und affektives Handeln von Personen im Grunde aus. (Weizsäcker, 1992:263)

"Wie unselig würden Kinder aufwachsen und darum später als Erwachsene handeln ohne das Urvertrauen, das ihnen die Mutterliebe mitgibt!" (Weizsäcker, 1992:284)

Die industrielle Ökonomie sieht das geldvermittelte Modell des Marktes als das Wichtige, das menschliche Zusammenleben als das Unwichtige an. Man setzt stillschweigend voraus, dass nichtegoistische Strukturen des Umgangs der Menschen untereinander vorhanden sind und sich naturwüchsig reproduzieren.

Man verkennt, dass Menschen, vor allem Frauen, diese Strukturen erst schaffen, aber ohne einen Tauschwert verlangen zu können, denn für die Marktwirtschaft sind sie ebenso wie die Natur Lieferanten menschlichen bzw. natürlichen ,Rohmaterials’.

Nach Kant sollen wir aber so handeln, dass wir die Menschheit in jedem Menschen nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck verstehen, d.h. kein Mensch ist ein technisches Gerät, eine Ware oder Sache zum Gebrauch für eigene Zwecksetzungen.

Als Gegenbewegung zur luxurierenden Macht des Marktes kann sich Widerstand nur in qualitativ anderer Form von Macht entwickeln, durch eine Ethik oder Moral des Lebens.

Ethos begegnet uns in zwei Formen, der kühlen Vernunft und der glühenden Liebe. Beide sind aufeinander angewiesen. Liebe ist Wahrnehmung des Mitmenschen, ein qualitativer Luxus ohne Abgemessenheit. Diesen Luxus finden wir daher nur in der persönlichen Wahrnehmung des anderen.

Aber "Wahrnehmung der Vernunft bedarf eines tragenden Affekts, um zum entschlossenen Handeln zu führen." (Weizsäcker, 1992:284)

Wir finden hier die gleiche "Doppelstrategie", die viele Interpreten Keys oft befremdet hat:

Affektive Wahrnehmung und Wahrnehmung des Ganzen durch logische Vernunft sind gleichberechtigt. Nur zusammenwirkend können sie den Menschen zum verantwortungsvollen Handeln veranlassen. Eine affektive Basis entsteht aber nur zwischenmenschlich, wenn Menschen sich als Individuen erkennen, als Mitmenschen empfinden.

2.3.8 Überblick

Wie das Zitat von Nalewski zeigte, haben sich die von Ellen Key beschriebenen Probleme von Europa auf die gesamte industriell geprägte Welt ausgedehnt.

Hier sind besonders die Arbeiten Ernst Ulrich von Weizsäckers und seiner Frau zu erwähnen, die sich mit der globalen wirtschaftlichen Entwicklung intensiv auseinandergesetzt haben.

Ch.v.Weizsäcker porträtiert die indische Quantenphysikerin und Umweltschützerin Vandana Shiva, die die Zusammenhänge zwischen sozialen Zerstörungen und Umweltzerstörungen aufdeckt: " Die westliche Kultur kann mit Kindern nichts anfangen. Was geschieht bloß mit den Leuten, dass sie anfangen, Kinder zu mißhandeln, ihre eigenen Schutzbefohlenen?" (Weizsäcker/Bücking,1992:153)

Dieses Jahrhundert sah nicht die "Humanisierung des Menschengeschlechts" (J.d.K.239), sondern die industrialisierte Tötung von Mitmenschen, ausgehend von einem Land, in dem Friedrich Paulsen 1907 polemisierte, dass Männer Keys Buch nicht lesen - und auch lieber nicht lesen sollten, nur die höheren Töchter, "die vereinigten Backfische von Berlin". (Nachwort, J.d.K.:253)

Ellen Keys "utopischer" Ansatz bleibt für das nächste Jahrtausend aktuell:

"Ein Wunschtraum für das nächste Jahrhundert wäre also eine moralisch erwachsene Wissenschaft und eine Gesellschaft, in der die Erkenntnisse einer solchen Wissenschaft durchsetzbar wären. Das ist nicht hoffnungslos, aber heute eben ein Wunschtraum." (Weizsäcker, 1992:296) [62]

Ihr Buch vom Jahrhundert des Kindes schließt: "Ich frage nicht, ob mein verwundeter Bruder leidet. Ich werde selbst dieser Verwundete."

Weizsäcker: "Nun kann ich anfangen, meines Bruders Hüter zu sein, Hüter vor der Untat, die vor der Tür meines Herzens und vor der Tür der Herzen meiner Mitmenschen lauert. Ich darf lieben, ich darf handeln." (Wahrnehmung der Neuzeit, 1983:313)



Fußnote:

[53] Seine Aussage in einem Brief 1979 an Willy Brandt, in dem er erläutert, warum er der Bitte, zur Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten zur Verfügung zu stehen, nicht entsprechen kann. (Lesebuch: 247)

[54] siehe Punkt:2.2.1.2.4

[55] Vgl. in diesem Zusammenhang KEYS Forderung nach "Erblosigkeit" Kap. 2.2.3

[56] Vgl. Punkt 2.2.2.1.3 u. 2.2.3.3

[57] Vgl.: K. Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. 4.Aufl., München /Zürich 1983

[58] Vgl.: Busch-Lüty/Jochimsen/Knobloch/Seidel (Hrsg.):Politische Ökologie. "Vorsorgendes Wirtschaften", Frauen auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, Sonderheft 6,1995

[59] Vgl.: Key: Die Wenigen und die Vielen, S. 10 ff.

[60] Bühler, Karl: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1922

[61] Vgl. Punkt 2.2.1.1 u .2.2.1.2

[62] Vgl. 2.2.2.4



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