Diplomarbeit Margrit Hansen - Uni Flensburg
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Inhaltsverzeichnis
Bewusstsein und Bewusstseinswandel
Literaturverzeichnis



3 Schlußbetrachtung

Keys Schlagwort vom "Jahrhundert des Kindes" hat sich in der Erinnerung ähnlich lebendig gehalten wie das Rousseau zugeschriebene Schlagwort "Zurück zur Natur", oft ohne Kenntnis dessen, was die jeweiligen Urheber wirklich meinten.

Key fordert am Anfang dieses Jahrhunderts Gerechtigkeit, Freiheit - und Brüderlichkeit - für den Menschen, nicht nur für den Mann, sondern auch für die Frau, ja sogar für das Kind, welches nach weitverbreiteter Meinung doch erst zu einem Menschen "gemacht" werden soll.

Dräbing weist auf die zukunftsweisenden gemeinsamen Aspekte einer Friedenserziehung bei den Skandinaviern Ellen Key und Johan Galtung hin. (Dräbing,1990:330f)

In dem 1977 von H.-J. Schultz herausgegebenen Buch: "Brüderlichkeit. Die vergessene Parole", mit Beiträgen von Böll, Heer, Kühner, Sperber Freire, Dolci, Jungk, Galtung u.a., schreibt Galtung in seinem Aufsatz Religion ohne Vertikalität "Das Wort ,Brüderlichkeit’ habe ich eigentlich nicht so gern. Erstens finde ich, dass es eine Unschönheit darin gibt: Es ist für Männer. Es sagt nichts über Schwesterlichkeit. Und zweitens - und das ist für mich sehr wichtig - die Lage unter Brüdern ist selten störungsfrei. Warum ist das so? Wenn wir Brüder sagen, wollen wir zumeist etwas Horizontales, Symmetrisches aussagen, aber auch etwas Innerliches, etwas Warmes mit gutem Gefühl. Das Problem ist jedoch, dass Brüder nie nur zwei, drei oder vier Geschwister in derselben Familie sind: Es gibt auch einen Vater, es gibt eine Mutter, es gibt Eltern. (...) Die Vertikalität ist immer im Hintergrund. (...) Und diese Vertiefung der horizontalen Beziehungen - nicht nur als einer Struktur, sondern als Gesinnung, als Innerlichkeit - nenne ich Liebe. Die gute Tat wäre es also, die Horizontalität zu erweitern, auszubauen, zu verbessern, auf dass ich ein Teil von dir und du ein Teil von mir bist." (S.163)

Key wagt einen Blick auf "das Ganze", aber gleichzeitig auf das Individuum, und versucht, ihre Wahrnehmung sowohl persönlich, wissenschaftlich als auch mythisch/religiös darzustellen.

Auf der Suche nach einer Erklärung für den Erfolg des Buches "Das Jahrhundert des Kindes" neigen Wissenschaftler dazu, die "seismographische Seite der Wahrnehmung" (Weizsäcker, 1992:115) abzulehnen, sie als "typisch weiblich" und/oder unwissenschaftlich einzustufen. Keys kontrastierenden Schreibstil hält man aus verschiedensten Gründen für ein Merkmal eines systemlosen Denkens.

Man spricht von "gefühlsdurchschauerteter Frauenseele", von einer "pathetischen Zukunftspredigerin", von der "Konsequenz eines leidenschaftlichen Frauendenkens", obwohl "der Ernst und die aufrichtige Menschenliebe dieser reinen und begeisterten Frau ebenso außer Frage stehen, wie ihre seltene Begabung und Unerschrockenheit." (Dräbing,1990:126)

Eine Wahrnehmungsweise, die nicht vom Begriff dominiert ist, kann man mythisch nennen: Schon frühe Kulturen brachten durch Schaffung von Gestalt die eigenen Lebensbedingungen zur Wahrnehmung. Das griechische mythos bedeutet Wort oder Erzählung, gemachte Zeichen, geschaffene Gestalten, die etwas bedeuten; Musik als Gestalt in der Zeit und bildnerische Darstellung können ebenfalls mythische Wahrnehmung vermitteln.

Ein künstlerischer Mensch wie Rilke hat dafür bis heute das beste Gespür gehabt: "Und dieses Buch, in seiner stillen, eindringlichen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses Jahrhunderts immer wieder darauf zurückkommen, man wird es zitieren und widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rechnen müssen." (Rilke in Fiedler,1993:249)

"Beide erlebten die Welt letztlich durch eine religiös geprägte Sensibilität, der die Vorstellung des >Ganzen< nicht fremd war." (Fiedler,1993:XVIII)

In drei Schritten soll die Bedeutung der Familie bei Ellen Key noch einmal zusammenfassend dargestellt werden, wobei keine hierarchische Anschauung, sondern eine wechselseitige Bezogenheit zugrundegelegt werden muss.

3.1 Natur

Es gibt die Natur und es gibt die menschliche Anschauung von der Natur. Mit Darwins Veröffentlichung musste ein Weltbild aufgehoben werden, dass den Menschen zwar als Teil der Natur sah, aber als dessen Spitze. (J.d.K.:12f.)

E. Key geht es wie C.F. von Weizsäcker um die "Wahrnehmung der Neuzeit". Im historischen Konflikt zwischen Tradition und Veränderung zeigt sich durch den individuellen Blickpunkt des Betrachters ein dritter Partner: die Wahrheit, d.h. die für wahr genommene Wirklichkeit, ein eigentlich dreieckiges Verhältnis. (Weizsäcker,1992:84)

Wenn auch die Individuen nicht unsterblich sind, so glaubte man bis zur Evolutionstheorie Darwins doch, dass die Spezies es seien. "Der Darwinismus ist die Herausforderung zu einer noch nicht geleisteten Philosophie der Zeit"(Weizsäcker,1992:195)

Weizsäcker spricht von drei Kränkungen oder Demütigungen, mit denen das Bewusstsein der Menschen von sich selbst fertig werden musste:

1."Physik und Astronomie haben ihren welthistorischen Kampf mit der überlieferten Glaubenslehre im 17. Jahrhundert ausgefochten."

Kopernikus, Kepler, Newton revidieren die Anschauung von der anorganischen Natur, die Erde und die Sonne rücken aus dem Mittelpunkt der Welt.

2."Die Biologie hat ihren welthistorischen Konflikt mit der überlieferten Kirchenlehre im 19. Jahrhundert begonnen, durch Darwins Abstammungs- und Selektionstheorie. (...) Aber der harte Kern der modernen Biologie ist ihr Physikalismus" —

Die Art ist nicht ewig, die belebte Natur muss als dynamischer Prozess von Veränderungen begriffen werden.

3."Soziologie und Psychologie führen einen zentralen Angriff. Sie machen den Menschen zum Gegenstand ihres Studiums." —

Das Ich ist zum Forschungsobjekt geworden, auch der Mensch ist veränderbar und manipulierbar; er muss jetzt erfassen, dass er nicht außerhalb der Gesetze steht, die er erforscht.(vgl. Weizsäcker, 1992,131ff.)

Er ist der Ansicht, dass die Wissenschaften ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdanken:

Die Physik fragt nicht, was Natur, was Raum, Zeit, Gegenstand eigentlich ist; die Biologie fragt nicht, was Leben ist; die Psychologie nicht, was man mit Seele meint, was Bewusstsein ist; sie fragt nicht, was Wert und Wertfreiheit ist. Mit dem Zugeständnis, dass solche Fragen sinnvoll sind, wird eine andere Ebene erreicht.

3.2 Sittlichkeit

R. Spaemann beschreibt die Veränderung der Perspektive so:

Der Mensch der Neuzeit muss erkennen, dass die Dynamisierung progressiver Unterwerfung der Natur dazu geführt hat, die Natur nicht mehr als dienlich für "Zwecke des höchsten Naturwesens, des Menschen", ansehen zu dürfen.

Im Zuge dieser ,Kränkungen’ hat der Mensch eine ungeheure Energie entwickelt, um zu erkennen, wer er ist. ,Wertneutralität’ der Wissens- und Verstandeskultur machten ihn zum ,Herrn der Erde’.

"Herrschaft über die Natur besagte nicht: Verantwortung für die Erhaltung und Reproduktion der Natur, Verantwortung für die elementaren Randbedingungen der menschlichen Existenz."

Er bejaht eine Verantwortung künftigen Generationen gegenüber, eine Respektierung des Reichtums des Lebendigen als einen Wert an sich, weil nur so "Freiheit und Autonomie, also auch so etwas wie Recht" für unsere Nachkommen gewährleistet werden können. (in: Guggenberger/Offe, 1984:250)

Ähnlich fragt U. K. Preuß: "Genauer: haben zukünftige Generationen Rechte gegen uns, die wir zu erfüllen verpflichtet sind?"

Er meint, dass wir unser Leben nur sinnvoll einrichten können, wenn wir wissen, dass es eine Zukunft des Menschen gibt, dass wir uns nicht am Ende, sondern inmitten einer Generationenfolge befinden. "Jedes Handeln wird objektiv und subjektiv sinnlos und unfrei, wenn ich weiß, dass es keine Zukunft gibt." Er spricht von einer Übertragung des Kategorischen Imperativs von der räumlichen auf die zeitliche Dimension: "Beschränke die Freiheit zukünftiger Generationen zur eigenen Selbstbestimmung nicht mehr, als du selbst durch die Hinterlassenschaft der vor dir lebenden Generation an Beschränkung deiner Freiheit hinzunehmen bereit bist."

(Die Zukunft. Müllhalde der Gegenwart? in:Guggenberger/Offe,1984:227)

Er erwähnt auch den deutsch-amerikanischen Philosophen und Religionshistoriker Hans Jonas, der eine ethische Neubesinnung angesichts der hochgerüsteten Welt fordert. In Anlehnung an Kant fordert er: >Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.< Neben die Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen muss die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen und gegenüber der Natur hinzukommen.

Es ist die gleiche Denkfigur, die uns bei Key mit dem "Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen", begegnet. Für Key beginnt die Verantwortlichkeit gegenüber der künftigen Generation, die "Heiligkeit der Generation" konkret und persönlich schon bei den Eltern. Aus der Sicht des Kindes ist entscheidend, wie und bei wem es aufwächst, und ob es geliebt wird.

Es zeigt sich, dass vor allem der geistig-seelische Schutzraum, den das Kind benötigt, eine wandelbare Größe ist, gefährdet von säkularen, technischen, soziologischen und zivilisatorischen Umschichtungen und Verwerfungen. Durch Sittlichkeit entsteht erst der Raum der Freiheit, in dem das Kind heranwachsen kann.

Es ist nicht unbedingt die "Stimme des Blutes", die Kinder für eine gesunde Entwicklung nicht entbehren können, sondern die sichere und liebevolle Bindung an verantwortungsvolle Erwachsene, das heißt faktische Elternschaft.

Elternfähigkeit ist entscheidend für Kinder. Nur dadurch wird Evolution der Menschlichkeit möglich.

3.3 Evolution

Das Sittliche ist nicht das letzte Prinzip. Es ist auch nicht die "Beherrschbarkeit der Zukunft via educationis" (Herrmann, J.d.K.:256), sondern Evolution.

Wahrnehmung von Schönheit und Harmonie ermöglichen eine "Evolution der Seele".

Weizsäcker spricht von "Plateaus der Evolution" im Bereich der Natur: die Selbstreproduktion, die Zelle, die geschlechtliche Fortpflanzung, die Tiere, die Wirbeltiere, die Warmblüter, die Intelligenz, und von analogen Plateaus in der biographischen Entwicklung des menschlichen Individuums, das ,Stirb und Werde’ für das Ich: das Nützliche, das Gerechte, das Wahre, das Gute und Schöne, das Heilige. (Weizsäcker,1992:206)

Nach einem angeborenen Verhaltensschema bauen Bienen ihren Staat auf, der Vogel sein Nest: "Immanuel Kant war bereit, vor einem Vogelnest anbetend auf die Knie zu fallen, aber nicht vor der Einsicht des Vogels, sondern vor der dem Vogel durch seine erbliche Natur vermittelten göttlichen Zwecksetzung." (Weissäcker,1992:114)

In den Essays: "Die Wenigen und die Vielen", "Bildung" "Schönheit", (W.u.V.), sowie "Culturveredlung", "Stille", "Die Evolution der Seele" (Ess), "Die Evolution der Liebe" (Ü.L.u.E.) und "Lebensglaube" stellt Key es ähnlich dar.

Keys Forderung, dass Vater und Mutter ihre Stirne vor der "Hoheit des Kindes in den Staub beugen", die "Majestät des Kindes" wahrnehmen sollen, der Vater seinem Kinde "in Demut" dienen soll, ist oft vehement und mit Entrüstung zurückgewiesen worden. Ob sich darin die oben beschriebene "Kränkung" widerspiegelt und der Wunsch, sich eher als "Schöpfer" und "Herrscher über die Natur", denn als "Geschöpf der Natur" zu erkennen, kann nur vermutet werden.

Die "Selige Sehnsucht" der Goethe-Verehrerin Key ist nicht Beherrschung der Natur durch den Menschen, sondern eine auf Empfangen, Mitfühlen und Handeln angewiesene geistige Natur.

"Das Grundphänomen des Guten mag darin bestehen, dass wir stets nicht bloß wahrnehmen, wie etwas ist, sondern mitwahrnehmen, wie es wohl sein sollte." (Weizsäcker,1992:185)

Man wird Ellen Key nicht gerecht, wenn man im "Jahrhundert des Kindes" nicht auch die religiöse Symbolik wahrnimmt: "Das Heilige".

Der Mythos der Weihnachtsgeschichte klingt vielfältig an und kann nur beispielhaft angedeutet werden:

Die intensive Beziehung zwischen Mutter und Kind innerhalb der "Heiligen Familie", die Heimatlosigkeit der auf Schutz angewiesenen Mutter mit ihrem Neugeborenen (...denn sie hatten keinen Raum in der Herberge), das unschuldige, hilflose Kind, das gleichzeitig Licht und Hoffnung verheißt, die Majestät, vor der Hirten und Könige auf die Knie sinken, die Frohe Botschaft: Et in terra pax hominibus bonae voluntatis.

Ellen Key bewunderte in Dresden die "Sixtinische Madonna" (Nyström-H: 1904:35) sowie auch das im Anhang wiedergegebene Gemälde, Correggios "Nacht". In der künstlerischen Darstellung dieses Bildes, besonders in der Gestaltung des Lichts, das vom Kinde ausgehend die Dunkelheit durchdringt, sowie im Gesichtsausdruck der Mutter, wird ohne Worte sichtbar, was der Mensch an Menschlichkeit durch das Kind geschenkt bekommen kann, wenn er empfänglich dafür ist. In der Hinwendung der Mutter zum "göttlichen Kind" zeigt sich die "reine Liebe", die Selbstaufhebung des Ich in totaler Einheit mit der Situation.

Key schreibt über die Philosophie Spinozas: "Nicht auf dem Wege der Begriffsmäßigkeit, sondern auf dem Wege der Intuition, in der Empfindung, dass das Einzelne von dem Ganzen durchstrahlt werde, errang Spinoza selbst seine tiefste Gewißheit. Diese unmittelbare Anschauung war für ihn der höchste Zustand der Seele, und in diesem waren die Widersprüche aufgehoben, die die Vernunft beunruhigen. Hier berührte sich Spinoza mit der Mystik."(LG:157)



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